Glanz
Wrack. Dann erst beginne ich zu begreifen, was passiert ist.
Ich drehe mich um. Das Fenster der linken Rückbank ist heil geblieben. Dahinter ist es nebelgrau vom Rauch. Ich sehe ein Gesicht, das sich gegen die Scheibe drückt. Die Augen sind weit aufgerissen.
Eric!
Ein Schrei erklingt. Ist es meiner? Ich weiß nur, dass ich ihn aus dem Wrack befreien muss. Meine Beine sind für einen Moment gelähmt wie in einem Alptraum. Als ich sie wieder spüre, hält mich jemand am Arm fest. »Nicht! Du kannst ihm nicht helfen!«
Ich drehe mich um.
»Mom? Kannst du mich hören?«
Ich starre weiter an die weiße Decke, versuche, die Augen zu bewegen. Sie leisten Widerstand, als seien sie festgerostet. Aber ganz langsam kann ich sie nach links drehen. Verschwommen erkenne ich ein Gesicht, wie einen rosa Ballon, dem jemand eine schwarze Perücke aufgesetzt hat.
Maria.
Sie hat mich festgehalten. Sie hat verhindert, dass ich Eric aus dem brennenden Autowrack befreie. Sie ist schuld an seinem Tod.
Ich weiß, dass das nicht stimmt.
Kurz nachdem ich mich zu ihr umgedreht hatte, gab es eine Explosion, und der Wagen war in Flammen gehüllt. In schrecklicher Klarheit sehe ich Erics Gesicht vor mir, Augen und Mund nur noch dunkle Flecken hinter den Flammen, die an der Scheibe emporlecken.
Ralph und Eric hatten keine Chance. Die Feuerwehr brauchte zwanzig Minuten, um ihre Leichen aus dem Auto zu schneiden, so verkeilt waren sie. Ich wäre vermutlich schwer verletzt worden, vielleicht gestorben, wenn Maria mich nicht zurückgehalten hätte. Ich weiß das; ich wusste es schon, als der Notarzt eintraf. Aber mein Herz hat es einfach nicht verstanden.
»Dr. Ignacius! Dr. Ignacius, kommen Sie bitte!« Marias Stimme klingt aufgeregt. »Ich … ich glaube, sie hat ihre Augen bewegt!«
Kann man vergessen, dass man eine Tochter hat?
Ich konnte es offenbar. Ich habe sie verdrängt, so wie ich jeden Gedanken an Erics und Ralphs Tod verdrängt habe.
Die Wochen nach dem Unfall müssen für Maria die Hölle gewesen sein. Ich selbst habe diese Zeit kaum bewusst wahrgenommen. Ich war leer, ausgehöhlt, ein Zombie.
Ein Priester hat versucht, mir zu helfen, aber ich habe aufgehört, an Gott zu glauben, als ich fünfzehn war. Ich vermute, es wäre nicht in Seinem Interesse gewesen, wenn ich wieder damit angefangen hätte, nachdem Er mir meinen Sohn genommen hatte.
Ein Psychiater hat versucht, mir zu helfen. Er hat mir ein Medikament gegen die Depression verschrieben: Glanotrizyklin.
Es hat gewirkt.
Dabei empfand ich gar keine Trauer. Ich empfand gar nichts. Ich hatte keine Gefühle mehr – nicht einmal Zorn. Ich bewegte mich mechanisch durch den Tag wie einer dieser Aufziehaffen, die aufgeregt herumhüpfen, dabei wie verrückt zwei kleine Becken aneinanderschlagen und die ganze Zeit blöde grinsen.
Ich weiß nicht mehr, warum ich damit angefangen habe, Erics Computerspiel zu spielen. Vielleicht wollte ich ihm nur ein bisschen nah sein, wollte sehen, was er gesehen hatte in den unzähligen Stunden, die er damit verbrachte, bevor es geschah. Ich weiß noch, wie er gemault hatte, dass er seinen Laptop nicht mitnehmen durfte, als wir in das verlängerte Wochenende fuhren. Und wie fröhlich er war, als er nach ein paar Stunden nicht mehr an seine virtuelle Welt dachte.
Das Spiel füllte die Leere in mir irgendwie aus, so wie heißes Wachs eine Kerzenform füllt. Es war, als steuerte nicht ich den griechischen Helden in dieser grausig-schönen Welt voller Monster, sondern als sei er es, der mich führte.
Wahrscheinlich hat Maria gedacht, dass das Spiel mir helfe, über Erics Tod hinwegzukommen. Aber das stimmte nicht: Das Spiel half mir, zu verdrängen, mich vor der Wahrheit zu verstecken. Nur wenn ich etwas essen musste oder duschen oder schlafen, stürzte die Realität auf mich ein, der Verlust, die schreckliche Stille. Deshalb versuchte ich, Essen, Schlafen und Duschen zu vermeiden.
Vor allem mied ich Maria. Ich sah sie niemals an, reagierte nicht auf ihre Worte oder Berührungen. Es tut weh, diesen Gedanken zu denken, aber ich weiß, dass ich mir damals wünschte, nicht Eric, sondern sie wäre gestorben. So sehr habe ich ihr gegen alle Fakten die Schuld an seinem Tod gegeben, und vielleicht auch daran, dass ich noch lebte.
Erst jetzt wird mir klar, dass ich die ganze Zeit nicht ein einziges Mal darüber nachgedacht habe, wie sie sich fühlen musste. Sie hatte ihren Vater und ihren Bruder verloren, und ihre Mutter hatte sie ebenfalls
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