Glanz
verlassen. Meine Schwester Emily kam manchmal vorbei, um ihr zu helfen und mit mir zu sprechen, doch ich habe ihr nicht zugehört. Die meiste Zeit war Maria allein mit mir, dem Zombie, in dem viel zu großen Apartment am Tompkins Square Park. Aber sie hat nicht aufgegeben, nicht aufgehört, um mich zu kämpfen.
Auch jetzt nicht.
Meine Augen füllen sich mit Tränen. Das ist schlecht, denn ich kann den Kopf immer noch nicht bewegen, und so fließen sie nicht richtig ab und füllen meine Augenhöhlen wie kleine Teiche, bis ich noch weniger erkennen kann.
»Doktor, sehen Sie mal! Sie weint!« Marias Stimme klingt so wie damals, als wir durch die verschneite Fifth Avenue gingen und sie zum ersten Mal einen verkleideten Weihnachtsmann sah. Sie beugt sich über mich, drückt mich, und ihre Tränen benetzen meine Wange. »Mom! Oh Mom, du kommst zurück!«
Ein zweites Gesicht erscheint hinter ihr. Obwohl ich es nur unscharf sehe, kann ich die schmalen, eingefallen wirkenden Konturen und die blassen Augen erkennen. Für einen Moment frage ich mich, wer das ist: Dr. Ignacius? Der brennende Mann? Hades?
Ich will Ihnen doch nur helfen, Anna. Hat er diese Worte wirklich gesagt? Hat er sie so gemeint?
Der Doktor schiebt Maria sanft zur Seite. Er leuchtet mit einer kleinen Stablampe in meine Augen. »Mrs. Demmet! Können Sie mich hören?«
Ja, das kann ich, laut und deutlich. Nur habe ich keine Möglichkeit, ihm das mitzuteilen.
»Wenn Sie mich hören können, dann blinzeln Sie jetzt bitte zwei Mal hintereinander!«
Ich versuche es. Offensichtlich gelingt es mir, denn ich kann sehen, wie sich der schmale, verschwommene Strich, der sein Mund ist, zu einer dünnen gebogenen Linie verzieht.
Marias Gesicht erscheint wieder in meinem Blickfeld, und ich glaube, ich kann erkennen, wie ihre Augen strahlen. »Oh, Mom!«, ruft sie, umarmt mich wieder und weint heftig an meiner Brust.
Wie gern würde ich sie jetzt umarmen, ihr sagen, wie sehr ich sie liebe. Und wie schlimm mein Verhalten ihr gegenüber auf meiner Seele brennt. Ob sie mir jemals verzeihen wird? Aber es scheint, als hätte sie es schon getan.
Wie lange liege ich hier schon? Ich weiß es nicht. Wachkoma, Apallisches Syndrom … die Worte ziehen durch meinen Kopf wie Gedankenblasen fremder Menschen. Ich muss sie irgendwie aufgeschnappt haben, während ich träumte.
Ein Gedanke durchzuckt mich: Was ist, wenn es noch nicht vorbei ist? Was, wenn auch das hier nur eine Trugwelt ist, ein Gedankengebäude, eine Seifenblase der Phantasie, die jeden Moment zerplatzen kann?
Ich möchte Dr. Ignacius fragen, ob er wirklich da ist. Ob ich endlich aufgewacht bin. Aber was würde mir seine Antwort nützen? Und wenn es nicht so wäre – wenn wir beide am Ende nur Hirngespinste wären, Ausgeburten einer kranken Phantasie –, wie könnten wir das jemals erkennen?
»Wird sie … wird sie wieder ganz wach werden?«, fragt Maria. Ihre Stimme klingt auf einmal furchtsam.
»Ja«, sagt der Doktor mit erstaunlich fester Stimme. »Es wird noch eine Weile dauern. Ihr Körper muss sich erst wieder daran gewöhnen, dem Geist Ihrer Mutter zu gehorchen. Immerhin hat sie acht Monate in diesem Zustand gelegen. Aber …«
Der Rest seiner Worte entgeht mir. Acht Monate!
Ich erinnere mich, wie ich den Cocktail gemischt habe. Man nehme: 20 Schlaftabletten, den Inhalt von 15 aufgeschnittenen Kapseln Glanotrizyklin. Das Ganze mit der Nagelschere zerstoßen, gut mischen und in etwas Wasser auflösen. Umrühren und ungekühlt in einem Zug trinken. Tipp: Wenn Sie den Cocktail einnehmen, während Sie am Computer spielen, haben Sie eine gute Chance, mitten in der Spielwelt wieder aufzuwachen.
Es muss Maria gewesen sein, die mich fand. Die den Krankenwagen rief, die voller Sorge mit mir fuhr, meine Hand hielt, so wie ich in meinem Traum Erics Hand hielt.
Eric. Ich sehe seine hübschen blonden Locken vor mir, spüre noch einmal das Gefühl seiner weichen Haare, wenn ich mit den Fingern hindurchstrich. Die Erinnerung fühlt sich an, wie wenn man eine heiße Herdplatte berührt. Aber es ist gut, dass ich wieder Schmerzen spüren kann.
Es wird Zeit, dass ich den Weg durch das Feuer des Tartaros gehe. Dass ich mich meinem Schmerz stelle, anstatt davor wegzulaufen. Dass ich meinen Sohn loslasse, damit ich endlich meine Tochter wieder umarmen kann.
»Oh Mom, ich bin so froh, dass du wieder da bist!«
Ich wünschte, ich könnte nicken oder wenigstens lächeln. So aber blinzle ich nur zwei Mal. Es
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