Glanz
dem Kristallsand: Felsen, Bäume und Büsche, über und über mit Diamanten, Smaragden und Rubinen besetzt.
Ich erinnerte mich an einen klaren Januarmorgen. Eric war sechs oder sieben Jahre alt gewesen. Wir gingen am Ufer des Hudson spazieren. Es war so kalt, dass einzelne Eiskristalle in der Luft schwebten. Die Flussufer und Bäume waren von Raureif und Schnee überzogen, der im Sonnenlicht glitzerte. Eric hob einen kristallüberzogenen Zweig vom Boden auf, um ihn mit nach Hause zu nehmen. Er war sehr enttäuscht, als die glitzernden Gebilde |184| sich in seiner Hand in gewöhnliche Wassertropfen verwandelten. Wieso Eis so schön glitzern konnte und Wasser nicht, wollte er wissen. Ich erklärte ihm, dass Sonnenlicht aus vielen verschiedenen Farben zusammengesetzt ist, wie es sich in den Kristallen bricht und in sein Spektrum aufgespalten wird, genau wie bei einem Regenbogen. »Es ist schön, wenn das Licht kaputtgeht, Mami«, hatte er gesagt.
Zerbrochenes Licht. War es das, was mein Ebenbild, die unglückliche Königin, gemeint hatte? War es die Erinnerung an dieses Erlebnis, die Eric bewogen hatte, sich eine solche Landschaft vorzustellen?
Vorsichtig betrat ich die funkelnde Ebene. Die Kristalle knirschten unter meinen Füßen. Zum Glück trug ich immer noch Erics Sandalen – wäre ich barfuß gewesen, hätten die scharfen Kanten sicher meine Füße zerschnitten und ich wäre wohl nicht weit gekommen.
In der Nähe ragte ein Baum auf. Er sah aus wie eine riesige Version jener Kristallminiaturen, die ich einmal in einem sündhaft teuren Laden im Rockefeller Center gesehen hatte. Sammler hätten sicher ein Vermögen für ihn bezahlt. Jedes einzelne Blatt schien aus Smaragden zu bestehen, der Stamm aus dunklem Amethyst. Sogar ein großer Vogel saß auf einem Ast. Seine schwarzen Federn waren mit winzigen Kristallsplittern besetzt, die im grellen Sonnenlicht glitzerten, doch der Vogel wirkte ansonsten völlig lebendig, so als könne er sich jeden Moment in die Luft erheben. Seine Augen aus poliertem schwarzem Stein schienen mich böse anzufunkeln.
Ich unterdrückte den Impuls, den Vogel vom Ast abzubrechen und auf den Boden zu werfen, damit er in tausend Stücke zersprang.
Ich wanderte zwischen gleißenden Bäumen und Büschen |185| entlang. Die Grashalme waren Nadeln aus grünem Glas. Sie knirschten unter meinen Schritten, zerbrachen aber nicht. Dazwischen wuchsen Blumen mit Blüten aus Rubinen, Saphiren oder gelben Diamanten. Ich sah Eichhörnchen, die wie festgefroren an den Baumstämmen klebten, Schmetterlinge, die sich auf Blüten ausruhten, sogar eine Ricke mit ihrem Kitz, die in der Nähe ästen. Ein leises Klimpern war zu hören, wenn der Wind die Kristallblätter und Zweige bewegte. Ansonsten herrschte Stille.
Nach ein paar hundert Schritten traf ich auf den ersten Kristallmenschen. Mein Herz schlug schneller, als ich ihn hinter ein paar Büschen aufragen sah. Es war ein griechischer Krieger. Seine Rüstung, sein Helm und der runde Schild funkelten golden. In der Rechten hielt er einen langen Speer. Doch obwohl die Kristalle die Gesichtszüge verzerrten, war ich mir sicher, dass es nicht Eric war.
Der Soldat schien mitten im Laufen eingefroren zu sein. Sein rechter Fuß hing in der Luft, und er war leicht vornübergebeugt. Wenn sein linkes Bein nicht fest mit dem Boden verwachsen gewesen wäre, hätte er umfallen müssen.
Ich umrundete eine Baumgruppe und blieb erschrocken stehen.
Vor mir senkte sich das Gelände in einem sanften Abhang zu einem langgestreckten Tal, in dessen Mitte ein breiter, dunkler Fluss seine Bahn zog. Auch er schien kristallisiert zu sein, denn das Wasser bewegte sich nicht. An seinem Ufer sah ich das dreidimensionale Abbild einer gewaltigen Schlacht. Tausende Krieger bedeckten das Gelände beiderseits des Stroms. Es war schwierig, ihre glitzernden Formen auszumachen, aber mir schien, dass nicht alle von ihnen Menschen waren. Die Wesen, die auf den ersten Blick wie Reiter aussahen, hatten bei näherem |186| Hinsehen menschliche Oberkörper, die mit einem Pferdekörper verwachsen waren: Zentauren. Als ich den Abhang hinunterkletterte und mir einen Weg zwischen den Kämpfern suchte, traf ich auf eine Gruppe von Wesen, die wie Teufel aussahen. Sie hatten menschliche Körper, doch ihre Beine endeten in Hufen, und sie trugen gebogene Hörner auf den Köpfen. Es gab weibliche Figuren, deren Haare aus Schlangen bestanden. Am eindrucksvollsten war eine riesige menschenähnliche
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