Glanz
lag reglos wie immer neben mir. Sein Atem ging regelmäßig. Emily hatte einen Arm um ihn geschlungen und schien zu schlafen.
Ich sah auf die Uhr. Es war halb zwei morgens. Ich war mehr als vierzehn Stunden in seiner Traumwelt gewesen. Ich war erschöpft, doch viel zu aufgewühlt, um zu schlafen. Leise stand ich auf, ging in die Küche und machte mir einen Tee. Aus dem Wohnzimmer konnte ich das Schnarchen von Emilys Mann hören. Die Welt schien seltsam friedlich, während in Erics Kopf jene fürchterliche Schlacht tobte.
Emilys Aquarellbild lag immer noch auf dem Küchentisch. Ich betrachtete die beiden Linien, die blaue Schlange für Eric, den orangefarbenen Kringel für mich, den matschiggrauen Fleck, wo sie einander berührten. Plötzlich hatte ich das Gefühl, dieser Fleck sei dunkler als in meiner Erinnerung. Ich sah genauer hin, und der Atem gefror in meinen Lungen. Aus dem Grauviolett wurde vor meinen Augen eine Farbe, die wie eingetrocknetes Blut |193| aussah. Dann wurde der Fleck plötzlich tintenschwarz. Er begann an den Rändern auszufasern und dünne, tentakelartige Linien auszustrecken, die den blauen und orangefarbenen Strich durchdrangen, breiter wurden, ihn schließlich überwucherten wie dorniges Gestrüpp. Ich versuchte zu schreien, doch kein Laut entkam meiner Kehle.
Der Fleck wurde immer größer, bis er das ganze Blatt bedeckte. Nur, dass es jetzt kein schwarzer Fleck mehr war, sondern ein Nichts, ein Loch in Raum und Zeit, aus dem mir Kälte entgegenschlug. Ich wollte fliehen, war jedoch unfähig, mich zu rühren. Die Schwärze überwand die Grenzen des Papiers, wucherte über den Küchentisch, den Fußboden, die Regale und Wände, bis sie mich völlig umschloss.
Während ich in einem Strudel aus Leere und Dunkelheit versank, hörte ich eine ferne Stimme: »Anna! Anna, wach auf!«
Jemand rüttelte an meiner Schulter.
Ich schlug die Augen auf. Ich lag auf dem Bett neben Eric. Emily hatte sich über mich gebeugt. »Bist du okay?«
Ich antwortete nicht. Ich fuhr hoch und stolperte auf wackligen Beinen aus dem Schlafzimmer in die Küche.
Das Aquarell lag an derselben Stelle, wo ich es in der Nacht zu betrachten geglaubt hatte. Die beiden bunten Linien und der graubraune Fleck dazwischen waren so, wie sie gewesen waren, als Emily sie gemalt hatte.
Die Erleichterung trieb mir die Tränen in die Augen.
»Was ist? Was hast du?«, fragte Emily, die mir verwirrt gefolgt war.
»Nichts«, sagte ich und lächelte schief. »Hab nur schlecht geträumt.«
»Okay. Dann lass uns frühstücken.«
|194| Ich brachte es nicht fertig, vom Kaffee zu trinken, den Emily mir hinstellte – zu ähnlich sah das schwarze Gebräu dem Wasser, das sich in meinen Mund gedrängt hatte. Ich nahm stattdessen ein Glas Milch. Emily quittierte das mit einer hochgezogenen Augenbraue.
Nachdem wir das Frühstück weggeräumt hatten, kam Maria. Ich half ihr, Eric auszuziehen, ihn zu waschen, seine Windel zu wechseln und ihn mit Nahrung zu versorgen. Sein bleicher Körper erschien mir kraftloser als zuvor, sein Blick noch leerer, doch vielleicht bildete ich mir das auch nur ein.
»Maria, ich möchte dir danken für alles, was du für mich und Eric tust«, sagte ich, als wir fertig waren.
Sie sah mich mit diesen traurigen, dunklen Augen direkt an. »Wie lange soll das noch so weitergehen?«
Ich wich ihrem Blick aus. »Bis wir ihn aus seinem dunklen Gefängnis befreit haben«, sagte ich.
Sie erwiderte nichts.
Ich ging in die Küche. Emily blickte von einer Zeitschrift auf. »Setz dich«, sagte sie.
Ich folgte der Aufforderung.
»Erzähl mir von deinem Traum!«
»Ich … ich erinnere mich nicht mehr genau …«
»Du meinst, du willst dich nicht daran erinnern.«
Ich zögerte. »Es … es war so real …«
Emily nickte. »Wir müssen aufpassen, Anna. Diese verdammte Droge verändert deinen Bezug zur Realität. Vision und Wirklichkeit geraten immer mehr durcheinander. Vielleicht wäre es besser, wenn wir eine Pause einlegten. Nur zwei oder drei Tage, damit der Körper die Giftstoffe vollständig abbauen kann.«
Ich setzte zum Protest an, fest davon überzeugt, dass wir keine Zeit verlieren durften, doch in diesem Moment |195| klingelte es an der Tür. Eine ungute Ahnung befiel mich. Ich wollte Emily bitten, nicht zu öffnen, doch Maria war bereits zur Tür gegangen. »Sie?«, hörte ich ihre Stimme aus dem Flur.
Ich erstarrte. Ich wusste, um wen es sich handelte, bevor ich Dr. Ignacius’ raspelnde Stimme erkannte.
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