Glanz
die medizinische Versorgung vorenthalten, die er dringend braucht, nur wegen der Hirngespinste einer vor Trauer kranken Frau? Noch dazu einer Schriftstellerin, die sicher auch so schon eine Menge Phantasie hat?«
»Soll ich lieber Erics Leben riskieren, indem ich ihre Warnung einfach ignoriere?«, konterte ich. »Ich würde es mir niemals verzeihen, wenn Eric in die Klinik dieses Dr. Ignacius kommt und dort stirbt. Selbst wenn der Arzt gar nichts dafür kann.«
»Würdest du dich wirklich besser fühlen, wenn er irgendwo anders stirbt?«, fragte Maria schnippisch.
Bevor ich meiner Empörung über diese Bemerkung Luft machen konnte, mischte sich Emily ein. »Ich glaube, das reicht jetzt! Wir wissen nicht, ob die Theorie dieser Frau stimmt. Aber ich bin Annas Meinung: Mit Dr. Ignacius ist irgendwas faul. Ich habe das Gefühl, dass wir ihm nicht trauen können. Und vor allem glaube ich auch, dass er noch einmal wiederkommen wird. So oder so hat Anna |207| recht: Wir müssen hier weg, an einen sicheren Ort. Dort können wir dann immer noch überlegen, was wir tun.«
»Wo willst du denn hin?«, wollte Maria wissen.
»Wir fahren nach Steephill«, entschied Emily.
»Steephill? Wo ist das denn?«, fragte ich.
»Ein kleines Dorf in den Appalachen. Da bin ich groß geworden. Es wird dir gefallen. Die Gegend ist sehr schön, und vor allem halten die Menschen dort zusammen. Jeder kennt jeden. Wenn es wirklich eine Verschwörung gibt, dann reicht sie mit Sicherheit nicht bis dorthin.« Sie stand auf. »Ich rufe Tante Jo an. Inzwischen macht ihr beide Eric reisefertig.«
»Aber wir können doch nicht einfach ohne Onkel Paul fahren«, protestierte Maria. »Wir sollten wenigstens warten, bis er von der Arbeit nach Hause kommt!«
»Ich werde ihn von unterwegs anrufen«, erwiderte Emily. »Er wird es verstehen. Er kann ohnehin nicht einfach so ein paar Tage frei nehmen.«
Maria machte den Mund auf und zu, fügte sich aber. Zum Glück fuhr Paul immer mit der U-Bahn zur Arbeit, wir konnten also das Auto nehmen.
Emily ging ins Wohnzimmer, um zu telefonieren. Währenddessen versorgten Maria und ich Eric mit Nahrung und Flüssigkeit und wechselten seine Windel. Wir zogen ihm Jeans, T-Shirt und eine leichte Sommerjacke an, dazu seine Lieblings-Sneakers. Kurz darauf kam Emily zu uns. »Tante Jo freut sich auf unser Kommen!«, sagte sie.
Ich griff Eric unter den Achseln und schlang meine Arme um seine Brust. Emily nahm die Füße. Obwohl er eher schmächtig war, gelang es uns nur mit Mühe, ihn die Treppen hinunterzuschleppen und auf die Rückbank des Fords zu wuchten, der zum Glück nicht weit vom Hauseingang entfernt parkte. Und das alles am helllichten Tag. |208| Doch wenn sich jemand über uns wunderte, bekamen wir davon nichts mit.
Maria und Emily gingen noch einmal in die Wohnung, um Nahrungsbrei und Windeln für Eric zu holen sowie ein paar Kleidungsstücke und Reiseproviant einzupacken. Qualvolle Minuten saß ich neben Eric auf der Rückbank und starrte voller Sorge auf die Straße, doch kein Polizeiwagen erschien. Endlich kamen die beiden schwerbepackt aus dem Haus. Sie luden meine Reisetasche, einen Koffer, eine Plastiktüte und eine Kühlbox in den Kofferraum.
Maria steuerte den Wagen durch den dichten Verkehr von Brooklyn, über die Williamsburg Bridge nach Manhattan und dann durch den Holland Tunnel nach New Jersey. Von dort nahmen wir die Interstate 78 nach Westen.
Als wir Newark hinter uns gelassen hatten, bat Emily ihre Nichte anzuhalten.
Maria lenkte den Wagen auf den Seitenstreifen. Emily stieg aus, öffnete die hintere Tür und setzte sich auf die Rückbank, so dass sich Eric in der Mitte zwischen uns befand. »Wir können die Zeit, in der wir unterwegs sind, ebenso gut nutzen, oder?«, meinte sie.
Bisher hatte ich den Gedanken daran verdrängt, dass ich bald in Erics Traumwelt zurückkehren musste. Bei dem Gedanken an das schwarze Wasser, das mich so unbarmherzig in die Tiefe gezogen hatte, krampfte sich mein Magen zusammen.
Emily betrachtete mich argwöhnisch. »Hast du Angst?«
Ich schüttelte den Kopf. Nachdem ich so sehr darum gekämpft hatte, dass sie mir half, würde ich jetzt bestimmt nicht zurückschrecken. Dennoch steckte ich meine Glanz-Kapsel mit einem unguten Gefühl in den Mund und spülte sie mit etwas Wasser aus einer Plastikflasche runter.
|209| Wir warteten einen Moment, während das Licht im Wagen immer heller zu werden schien und meine Angst allmählich der Vorfreude wich. Dann nahmen
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