Glanz
plötzlich keine Angst mehr vor ihnen, sondern nur noch tiefes Mitleid. Diese Männer mussten auf dem Schlachtfeld gestorben sein, und ich war irgendwie in ihr Totenreich gelangt.
Eine schreckliche Ahnung befiel mich. »Wo … wo ist Eric?«
Entweder konnten die Toten nicht antworten, oder sie wollten es nicht. Sie starrten mich nur mit ihren leeren Augenhöhlen an.
Nach einem Moment der Bewegungslosigkeit traten einige von ihnen zur Seite und bildeten eine Art Spalier. Aus dem Nebel trat eine neue Gestalt hinzu.
»Eric!«, schrie ich und lief zu ihm.
Er schien unverletzt, doch sein Gesicht war bleich und aufgedunsen. Seine Augen weiteten sich vor Schreck, als er mich sah. Ich umklammerte ihn, presste ihn an mich und zuckte dann jäh zurück.
»O Gott, nein!«, schrie ich. »Nein!« Ich sank vor ihm auf die Knie und weinte hemmungslos.
|216| Er hockte sich hin und streichelte meinen Kopf. Die Berührung seiner kalten Hände verursachte mir Ekel, doch ich unterdrückte das Gefühl. Ich überwand mich und sah zu ihm auf. Seine Haut war fahl, doch seine Augen schienen immer noch einen Rest von Leben zu bergen.
»Was hast du denn erwartet, göttliche Mutter?«, fragte er. Seine Stimme klang unendlich müde. »Wusstest du nicht, dass kein Sterblicher lebend die Fluten des Styx durchqueren kann?«
Der Styx. Der Fluss, der in der griechischen Mythologie das Reich der Lebenden vom Totenreich trennte. Und ich hatte mich kopfüber da hineingestürzt. Wie dumm konnte man eigentlich sein?
»O Eric, es tut mir so leid!«, schluchzte ich. »Warum bist du mir nur gefolgt, wenn du es wusstest?«
»Weil du es gesagt hast, göttliche Mutter«, erwiderte er sanft.
Ich wischte mir die Tränen weg und richtete mich auf. »Ich hol dich hier raus!«, sagte ich. »Das alles hier ist nicht real. Es ist nur ein Traum. Und wir beide werden den Ausgang aus diesem Traum finden, egal, was dafür nötig ist!«
»Niemand kann aus dem Reich der Toten fliehen, göttliche Mutter.«
»Doch«, erwiderte ich trotzig. »Doch, du kannst es! Wir beide können es. Schließlich bin ich auch hierhergekommen und lebe noch. Es muss einen Weg zurück geben.«
»Er wird uns kaum gehen lassen.«
»Er? Wen meinst du?«
»Ich meine den Herrn der Unterwelt. Hades, den Bruder des allmächtigen Zeus. Wenn du willst, bringe ich dich zu ihm. Du bist von göttlichem Geschlecht. Vielleicht kannst du …«
Ich schüttelte den Kopf und ergriff seine Hand. »Wir |217| gehen weiter am Flussufer entlang. Irgendwann müssen wir zu dieser verdammten Brücke kommen. Wir werden einen Weg finden, dort hinüberzugehen!«
Eric musterte mich traurig. »Es gibt keine Brücke, göttliche Mutter.«
»Doch«, protestierte ich. »Es gibt sie. Ich habe sie gesehen. All die Monster – Zentauren, Gorgonen, Zyklopen und was weiß ich noch alles – sind darüber gekommen. Ihr habt versucht, sie zurückzuschlagen, weißt du das nicht mehr?«
»Doch, natürlich weiß ich es noch. Aber die Menschen haben die Schlacht verloren. Hades’ Truppen haben unsere Armee überrannt. Zeus schickte die Hundertarmigen, um sie aufzuhalten. Sie zerstörten die Brücke über den Styx, aber es war bereits zu spät. Hades hat seinen Bruder verraten. Er hat die Titanen aus ihrem Gefängnis im Tartaros befreit und sich mit ihnen verbündet. Nichts kann ihn mehr aufhalten.«
»Schwachsinn!«, rief ich. »Das sind doch alles nur Märchen! Geschichten, die man Kindern erzählt! Eric, das alles ist nicht die Wirklichkeit! Du denkst es dir nur aus! All diese Monster hast du tausend Mal in Computerspielen bekämpft. Du hast eine Droge genommen, die dich noch stärker in die Spielwelt hineingezogen hat. Dann bist du ins Koma gefallen, und jetzt sind wir beide hier in der Welt deiner Phantasie und suchen nach einem Ausweg.« Ich ergriff seine kalten Oberarme und schüttelte ihn. »Eric, bitte, wach endlich auf!«
Doch er schüttelte nur traurig den Kopf. »Ich verstehe das alles nicht, göttliche Mutter. Aber ich weiß, dass es für mich keinen Ausweg gibt. Ich bin dazu verdammt, für immer hier herumzuirren, wie alle vor mir und alle nach mir, natürlich mit Ausnahme von Göttern wie dir.«
|218| Ich bin keine Göttin, wollte ich ihm zum hundertsten Mal erklären, ich bin deine Mutter. Aber ich besann mich eines Besseren. »Wenn ich eine Göttin bin, dann gelten Hades’ Gesetze für mich nicht, oder?«, sagte ich. »Dann kann ich dich hier rausholen und zu diesem dämlichen Tor des Lichts führen,
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