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Glanz

Glanz

Titel: Glanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Olsberg
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zweiten Versuch wählte ich eine schlichte Holztür, die zu der Jagdhütte von Jake Winston gepasst hätte. Meine Hoffnung war, dass sie zu einer ähnlichen Behausung irgendwo in einer Waldlandschaft gehörte. Tatsächlich öffnete sie sich in einen Innenraum mit Holzwänden, die vom warmen Licht eines Kaminfeuers erleuchtet wurden.
    An einem großen Tisch saß ein Wesen, das dem »Herrn der Ringe« davongelaufen zu sein schien: ein Zwerg mit grauer Haut, einem zerfurchten, schiefen Gesicht, langen haarigen Armen und viel zu kurzen Beinen. Er war in schmutzige Fetzen gehüllt, die einmal so etwas wie Kleidung gewesen sein mochten. Der betäubende Gestank von ranzigem Fett schlug mir entgegen.
    |284| Das Wesen grinste mich mit seinem schiefen Mund an, und in den Lücken zwischen seinen Zähnen klebten faulige Essensreste. Es hielt einen Teller hoch, auf dem von Maden bedecktes Fleisch lag, und machte eine einladende Geste. Dazu sagte es etwas in einer fremden Sprache.
    »Nein, danke«, sagte ich und schloss die Tür.
    Das Tor gleich nebenan bestand aus glänzendem roten Material, anscheinend einer Art Kunststoff. Es war etwas größer als der Eingang zur Hütte des Gnomen. Ich öffnete es und blieb mit offenem Mund an der Schwelle stehen.
    Hinter der Tür erstreckte sich ein riesiger Raum. Die hellblauen Wände waren mindestens fünfzig Meter hoch, der Boden mit Teppich bedeckt, dessen Fasern mir bis über die Knöchel reichten. Nicht weit von mir entfernt stand ein rotes Auto. Es war groß genug, dass ich mich hätte hineinsetzen und wegfahren können, wenn es einen Motor gehabt hätte. Doch es bestand aus Holz, hatte große gelbe Räder und eine Schnur, dick wie ein Ankertau, mit der man es hinter sich herziehen konnte.
    Ich erkannte dieses Auto sofort, und mein Magen krampfte sich bei seinem Anblick zusammen. Eric hatte es zu seinem zweiten Geburtstag geschenkt bekommen.
    Staunend trat ich ein, wobei ich meine Reisetasche so auf die Schwelle stellte, dass die Tür nicht von selbst zufallen konnte. Das hier war tatsächlich Erics Kinderzimmer – eine riesenhafte Version davon. Die Tür gehörte zu einem roten Feuerwehrhaus aus Plastik. Figuren lagen herum, jede von ihnen beinahe so groß wie ich. Ihre gelben Plastikgesichter grinsten furchterregend. Erics Bett war so hoch, dass ich aufrecht drunter hindurchlaufen konnte. Der kleine Kindertisch mit den beiden Plastikhockern hatte die Dimension eines Einfamilienhauses.
    |285| Ich drehte mich um, und mein Herz blieb stehen. Ich blickte direkt in Erics riesiges, von blonden Löckchen umrahmtes Gesicht. Er war es, etwa zwei Jahre alt, daran bestand kein Zweifel. Er saß auf dem Boden, in hellblauen Shorts und einem T-Shirt, das ich ihm bei unserem Ausflug nach Disneyworld gekauft hatte. Seine großen, blauen Augen musterten mich neugierig, und seine Stirn zog sich zu einer niedlichen Falte kraus. »Mama?«, sagte er und streckte eine Hand nach mir aus.
    Ehe ich reagieren konnte, hatte er mich gepackt und hochgehoben. Seine kurzen Finger umklammerten mich so fest, dass ich Angst um meine Rippen hatte und kaum atmen konnte. Er hielt mich dicht vor sein Gesicht und betrachtete mich mit großen staunenden Augen. Sein Mund war zu einem runden O geöffnet, das bei einem normalgroßen Kleinkind entzückend gewirkt hätte. »Ma ma ?«, fragte er erneut.
    »Eric!«, rief ich.
    Das war ein Fehler. »Mama!«, rief er freudig und schüttelte mich durch die Luft. Mir wurde übel. Ich versuchte, mich aus seiner Umklammerung zu winden, doch damit erreichte ich nur, dass er noch fester zudrückte. Ich bekam keine Luft mehr. In seiner kindlichen Freude würde er mich umbringen.
    Ich konnte einem Zweijährigen nicht erklären, dass er mich loslassen musste. Also tat ich das Einzige, was mir einfiel: Ich biss ihm in den Finger, so fest ich konnte.
    Der Biss konnte für ihn nicht mehr sein als ein leichtes Zwicken – seine Haut war hart und zäh wie Leder zwischen meinen Zähnen. Doch ich erreichte mein Ziel. Er ließ mich fallen und stimmte ein ohrenbetäubendes Gebrüll an.
    Ich rang nach Luft. Mein Brustkorb schmerzte, und ich |286| konnte mich kaum bewegen. »Aua Ding!«, brüllte Eric. »Böses Ding!« Er nahm einen der Holzbauklötze, mit denen er gespielt hatte – sie erinnerten mich an die mächtigen Steinquader, aus denen die Pyramiden von Gizeh gebaut worden waren –, und warf ihn nach mir, verfehlte mich aber um ein paar Meter.
    Ich wartete nicht, bis er den nächsten Versuch

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