Glashaus
passiert ist … Nun ja, ich weiß ja nicht, wie nahe sie den Opfern stand, kann mir aber vorstellen, was sie derzeit durchmacht, falls sie die beiden gut kannte. Vor zwei Tagen fühlte sie sich krank - wie mag es ihr jetzt gehen?
Ich marschiere zum Empfang hinüber. Da hier heute nichts los ist und bislang nicht ein einziger Besucher vorbeigeschaut hat, habe ich keine Bedenken, das Schild an der Tür ein Weilchen auf die Seite GESCHLOSSEN zu drehen. Im Aufenthaltsraum für das Personal gibt es eine Kartei mit Verwaltungsunterlagen, und nachdem ich sie kurz durchgegangen bin, finde ich Janis’ private Telefonnummer und wähle sie. Es dauert beunruhigend lange, bis jemand abnimmt.
»Janis?«
Ihre Stimme klingt müde, selbst wenn man die verzerrte Wiedergabe bedenkt, die bei diesen Telefonverbindungen offenbar unvermeidlich ist.
»Reeve, bist du das?«
»Ja. Ich hab mir schon Sorgen um dich gemacht. Alles in Ordnung bei dir?«
»Mir war heute Morgen übel. Außerdem hatte ich, ehrlich gesagt, auch keine besondere Lust, in die Bücherei zu gehen. Macht’s dir was aus?«
Ich sehe mich um. »Nein … Hier ist es so tot wie auf einem …« Ich kann mir gerade noch auf die Zunge beißen. »Hör mal, warum nimmst du nicht ein paar Tage frei? Du wolltest doch sowieso in zwei Monaten aufhören, da musst du’s jetzt doch nicht übertreiben. Wenn du möchtest, kann ich an meinem nächsten freien Tag mit ein paar Büchern bei dir vorbeikommen, das wäre übermorgen. Na, was meinst du?«
»Klingt wunderbar«, erwidert sie dankbar. Nachdem wir uns noch kurz unterhalten haben, lege ich auf.
Gerade drehe ich das äußere Türschild wieder auf GEÖFFNET, als eine lange schwarze Limousine vorfährt. Ich hole tief Luft - was macht Fiore heute hier? - und sehe gleich darauf, wie der Pfarrer aussteigt und jemand anderem die Tür aufhält, was Fiore gar nicht ähnlich sieht. Diese andere Person trägt ein purpurfarbenes Gewand und ein Käppi. Ich kann mir sehr wohl denken, wer das sein muss: der Bischof. Yourdon.
Der Bischof entpuppt sich als genaues Gegenstück zum gedrungenen, fettleibigen Fiore: Er ist so dünn wie ein Skelett und hoch aufgeschossen. Ein Storch und eine Kröte. Yourdons Haut ist seltsam blass, und die Wangenknochen stechen wie Schaufelblätter aus dem Gesicht hervor. Er trägt eine eckige, schwere Hornbrille, und seine Haare, deren Farbe an vergilbtes Elfenbein erinnert, kleben in dünnen Strähnen an seinem Schädel. Mit großen Schritten, die skelettartigen Hände vor sich verschränkt, strebt er auf den Eingang zu, während Fiore keuchend und schnaufend hinter ihm hertrippelt, um mitzuhalten. »Ich muss schon sagen«, ruft Fiore, »bitte …«
Nachdem der Bischof die Tür zur Bücherei aufgestoßen hat, bleibt er stehen. Seine Augen sind von ungewöhnlich blassem Blau, und das Weiß der Augäpfel ist gelblich eingefärbt. In seinem Blick liegt eiskalte Verachtung. »Sie haben’s schon einmal vermasselt, Fiore«, zischt er. »Es wäre mir wirklich lieb, wenn Sie Ihre kleinen Masturbationsfantasien künftig für sich behielten.« Gleich darauf dreht er sich zu mir um.
»Hallo?«, begrüße ich ihn mit gezwungenem Lächeln.
Er sieht mich an, als wäre ich irgendeine Gerätschaft. »Ich bin Bischof Yourdon. Bringen Sie mich bitte zum Dokumentenarchiv.«
»Ah ja, selbstverständlich.« Hastig trete ich hinter dem Empfang hervor und winke ihn nach hinten durch.
Während Fiore hinter uns herwatschelt, schnaubt er missbilligend und atmet schwer; Yourdon dagegen, der Knochenmann, bewegt sich mit solcher Geschmeidigkeit, als hätte er gut geschmierte Achsen anstelle von Gelenken. Irgendetwas an ihm jagt mir Schauer über den Rücken. Wie er Fiore angesehen hat … Ich weiß nicht, wann ich zuletzt einen derart verächtlichen Ausdruck auf einem menschlichen Gesicht gesehen habe. Als ich beide zum Archiv führe, stakst der Sensenmann in stiller Wut hinter mir her, die watschelnde ölige Kröte im Schlepptau.
In der Abteilung Nachschlagewerke trete ich zur Seite. Unter Yourdons wütenden Blicken sichtbar zusammengeschrumpft, fummelt Fiore mit seinem Schlüsselbund herum. Schließlich bekommt er die Tür auf und schießt vorwärts. Yourdon, der stehen geblieben ist, fixiert mich mit seinem Eiswasser-Blick. »Wir verbitten uns jede Störung, welchen Grund es auch geben mag. Kapiert?«
Ich nicke eifrig. »Ich … ich bin vorne am Empfang, falls Sie mich brauchen.« Mit Mühe unterdrücke ich ein Zähneklappern.
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