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Glashaus

Titel: Glashaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Stross
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Was hat dieser Kerl nur an sich? Auch früher schon habe ich Misanthropen kennengelernt, aber Yourdon schlägt sie um Längen.
    Fast drei Stunden lang halten sich Fiore und der Bischof im Archiv auf, um da drinnen was auch immer zu erledigen. Zweimal höre ich erhobene Stimmen: Der Bischof erwidert Fiores schleimiges Bitten und Betteln damit, dass er ihn wie eine wütende Schlange anzischt. Derweil bleibe ich hinter dem Empfangstresen sitzen und zwinge mich dazu, nicht alle zehn Sekunden über die Schulter zu blicken. Stattdessen versuche ich in einem Buch zu lesen, das die Hexenjagden im vorindustriellen Europa und Merka behandelt. Diese Menschenjagden erinnern mich auf beunruhigende Weise an das, was hier vor sich geht: Die Gemeinschaften sind zu Gruppierungen zerfallen, die sich gegenseitig misstrauen und dabei überbieten, einander bei blutrünstigen geistlichen Autoritäten anzuprangern, die von ihrer weltlichen Macht wie berauscht sind. Allerdings fällt es mir schwer, mich zu konzentrieren, während die Schlange und die Kröte im Hinterzimmer Geräusche machen, als gingen sie sich gegenseitig an die Gurgel.
    Als Fiore und Yourdon wieder auftauchen, habe ich eigentlich schon Mittagspause. Während Fiore niedergedrückt und verärgert wirkt, hat sich Yourdons Laune offenbar gebessert. Doch falls das gute Laune ist, möchte ich ihn nicht erleben, wenn er wirklich zornig ist. Sobald er lächelt, sieht er so aus, als hätte ihm jemand einen Hautlappen über den Schädel gestreift. Die farblosen Lippen ziehen sich dabei so von den gelben Zähnen zurück, dass sein Grinsen alles andere als belustigt wirkt. »Sie machen sich jetzt wohl besser wieder an die Arbeit«, ruft er Fiore zu, während er mit großen Schritten an meinem Tresen vorbeistakst, ohne auch nur in meine Richtung zu nicken. »Sie sind im Rückstand und haben viel aufzuholen.«
    Gleich darauf stürmt er durch die Tür. Die lange schwarze Limousine biegt bereits um die Ecke, um den Herrn und Meister wieder zum üblichen Schlupfwinkel zurückzubefördern.
    Wenige Minuten später watschelt Fiore mit missmutigem Blick an mir vorbei. »Ich komme morgen wieder«, murmelt er und stapft aus der Tür. Da keine Limousine auf ihn wartet, muss er zu Fuß gehen und sich der Mittagshitze aussetzen. Meine Güte, welch ein Absturz für den mächtigen Mann!
    Ich sehe ihm nach, bis er aus meinem Blickfeld verschwindet. Danach gehe ich zur Tür hinüber, drehe das Schild auf GESCHLOSSEN, schließe ab und hole tief Luft. Heute hatte ich nicht mit so was gerechnet, aber die Gelegenheit ist zu günstig, um sie ungenutzt verstreichen zu lassen. Also hole ich meine Tasche aus dem Personalraum und mache mich auf den Weg zum Archiv.
    Jetzt ist der Augenblick der Wahrheit gekommen. Es ist noch nicht mal hundert Sekunden her, dass Fiore das Gebäude verlassen hat. Ich stecke den mühsam hergestellten Nachschlüssel ins Schloss und drehe ihn mit heftig klopfendem Herzen um. Einen Moment lang will er sich nicht bewegen, doch als ich leicht daran rüttle - der Schlüsselbart will sich nicht ganz einfügen -, rastet etwas ein, quietscht leicht auf und gibt nach. Ich stoße die Tür weit auf und greife nach dem Lichtschalter.
    Der winzige Raum hat weder Fenster noch Tische oder Stühle. Nur eine nackte Glühbirne baumelt an einem Kabel von der Decke und beleuchtet die Bücherregale an drei Wänden und eine Falltür mitten im Fußboden.
    »Was ist das denn für’ne Scheiße?«, frage ich laut und sehe mich um.
    Auf allen Regalen stehen Aktenkartons, jede Menge Aktenkartons. Aber bis auf laufende Nummern sind ihre Rücken nicht beschriftet. Alles ist angestaubt, bis auf die Falltür, die jüngst geöffnet wurde. Ich hole tief Luft und schiele daraufhin beinahe, um ein Niesen zu unterdrücken. Wenn das Fiores Vorstellung von ordentlicher Haushaltsführung ist, überrascht es mich nicht, dass Yourdon sauer auf ihn war.
    Ich mustere das Regal, das mir am nächsten steht, und ziehe aufs Geratewohl einen Aktenkarton heraus. Als ich das Schnappschloss öffne, stelle ich fest, dass er voller Papiere ist, voll vergilbender Blätter. Es ist weiches Druckerpapier, und darauf sind mit altmodischer Druckertinte Kolonnen hexadezimaler Zahlenreihen ausgedruckt. Jedes Blatt ist oben nummeriert. Es dauert ein paar Sekunden, bis ich weiß, was ich vor mir habe. Es ist eine Mind Map in Heximaldarstellung (jeweils sechzehn Zeichen, in zwei Gruppen von jeweils acht Zeichen). Das, was unsere Vorfahren als

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