Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Glashaus

Titel: Glashaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Stross
Vom Netzwerk:
mehr ausweichen kann, seit Dr. Hanta mir ihr Fixiermittel verabreicht hat. Ich muss mich mit dem Ich herumschlagen, zu dem ich geworden bin, ohne jede Möglichkeit, das Fehlende wiederherzustellen. »Ich bin nicht mehr die Person, die ich vor einer Woche war«, sage ich angespannt. »Zum einen hat Dr. Hanta dafür gesorgt, dass keine Erinnerungen mehr durchsickern. Zum anderen ist mir meine eigene Sterblichkeit wieder deutlich bewusst geworden. Ich möchte mich nicht darüber auslassen, warum das so ist, aber es hängt nicht mit dem zusammen, was sie mit mir angestellt haben. Glaube ich jedenfalls.« Allerdings meldet sich sofort eine zynische Stimme in meinem Innern: Gerade eben hast du den Satz »ich liebe dich« laut ausgesprochen, stimmt’s? Als du das zuletzt getan hast, wurde dein Curious Yellow-Parasit aktiviert, sodass du die Worte nicht hören konntest. Jemand hat sich an deiner Netzverbindung zu schaffen gemacht, nicht wahr?
    Das eisige Entsetzen, das einen beschleicht, wenn man aufwacht, ohne zu wissen, ob man nachts gestorben ist, ist mir gerade in den Rücken gefahren. Es ist so, als ob mich Knochenfinger berührten. Auf dem Weg, der mich von der gerinnenden Blutpfütze im Keller der Bücherei bis zu Dr. Hanta geführt hat, die mir die Erlaubnis zum Eingriff auf hinterhältige Weise abgerungen hat, ist mir offenbar etwas abhanden gekommen. Sam hat recht: Mein altes Ich würde sich nicht so verhalten, wie ich es soeben getan habe. Mein altes Ich hätte vor anderen Dingen Angst als mein neues, und das aus gutem Grund. Zwar habe ich vor Fiore und Yourdon immer noch Angst und will auch immer noch raus aus dieser perversen, rundum überwachten Gesellschaft, doch inzwischen habe ich erfahren, dass wir uns an Bord eines MAE befinden, und mir ist klar, was das bedeutet.
    »Ich will dich immer noch«, versichere ich Sam. »Ich weiß nur nicht genau, ob aus denselben Gründen wie letzte Woche«, fügt ein skeptischer Teil von mir hinzu.
    »Die haben dich in den Griff bekommen.«
    Ich lache unsicher. »Das haben sie schon lange, nur hab ich’s bis jetzt nicht bemerkt.« Ich klammere mich an ihn, aber jetzt ist die Angst mindestens so stark wie das sexuelle Begehren. »Warum bist du hier, Kay? Warum hast du dich für dieses Experiment gemeldet?«
    »Ich bin dir gefolgt.«
    »Quatsch!« Jetzt wird mir einiges klar. »Das allein war’s nicht. Und erzähl mir bloß nicht, du hättest dich von deinem Leben unter den Eisdämonen lösen wollen. Warum bist du dort überhaupt hingegangen? Wovor bist du davongelaufen?«
    Sam reagiert nicht und schweigt eine Weile. »Wenn ich dir das erzähle, wirst du mich vermutlich hassen.«
    »Na und?« Ich sehe eine neue Chance, rutsche aufs Bett hinauf, ziehe die Beine an, schlage sie übereinander, bedecke sie mit meinem Kleid und lege die Hände in den Schoß. »Wenn ich mir deine Geschichte anhöre, ohne dich hinterher zu hassen, darf ich dann mit dir schlafen?«
    »Ich verstehe nicht, was das eine mit dem anderen zu tun haben soll …«
    »Meine Beweggründe musst du schon mir überlassen, Sam.« Selbst wenn sie nicht die reinsten und von außen manipuliert sein sollten. »Ständig versuchst du, mir irgendwelche Dinge zu unterstellen - das wird schon zur schlechten Angewohnheit. Früher hatte ich gute Gründe dafür, nicht mit dir zu schlafen. Doch jetzt, wo diese Gründe keine Rolle mehr spielen, behauptest du, ich würde mich völlig untypisch verhalten. Du traust mir eine Veränderung aus einer eigenen Entscheidung heraus schlicht nicht zu.«
    Er schüttelt den Kopf.
    »Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie sehr du mich damit beleidigst?«
    »Das hab ich doch gar nicht sagen wollen …«
    »Ich bin zu Veränderungen fähig, deshalb bin ich ja hier!« Ich hole tief Luft. »Ich bin nicht mehr die Person, die ich während des Krieges oder davor war, Sam. Nicht mal mehr die aus der Nachkriegszeit. Ich bin die, die ich jetzt bin - das Endergebnis all jener anderen Personen, aus denen ich mich entwickelt habe. Man kann Menschen in die dunkle Epoche versetzen, aber den Menschen nicht die dunkle Epoche einpflanzen, es sei denn, man verkürzt deren Lebenserwartung auf rund drei Gigasekunden oder löscht so viele Erinnerungen, dass sie genauso gut …« Ich führe den Satz nicht zu Ende, denn ich habe das merkwürdige Gefühl, etwas Lebenswichtiges entdeckt zu haben, auch wenn ich nicht genau weiß, was es ist.
    Sam sieht mich seltsam an. »Du wirst mich hassen. Ich habe schreckliche

Weitere Kostenlose Bücher