Glashaus
Mund wirkt wie eine blutrote Wunde, während ihren Wangen jede Farbe fehlt. Aber es ist eindeutig Cass. Sie hält das Gesangbuch so, als sähe sie es zum ersten Mal.
Bist du das, Kay? Ihre Anwesenheit macht mir schwer zu schaffen. Ich habe mich an das Versprechen gehalten, das Kay mir seinerzeit abgerungen hat, als sie fragte: »Du wirst da drinnen doch Ausschau nach mir halten, nicht wahr?« Und Cass … kennt die Gesellschaft der Eisdämonen. Wenn Mick nur nicht so verrückt vor Eifersucht wäre, dass er sie wegsperrt. Wenn …
Sam gibt mir diskret einen Rippenstoß, denn die Leute schließen bereits ihre Gesangbücher und nehmen wieder Platz. Hastig setze ich mich. (Ich will ja nicht, dass jemand Notiz von mir nimmt, will nicht ungewollt Aufmerksamkeit auf mich ziehen.)
»Meine teuren, geliebten Kinder«, hebt Fiore an. »Wir sind eine Kirche der Liebe. Heute nehmen wir wieder eine neue Schar in unsere Mitte auf: Eddie, Pat, Jon …«, er zählt noch sieben weitere frische Opfer auf, »und ich weiß, ihr werdet sie unter eure Fittiche nehmen und euch so bald wie möglich mit ihnen anfreunden. Außerdem heißen wir nachträglich auch Cass, unsere Schlafmütze, willkommen, die sich endlich dazu bequemt hat, uns mit ihrer geschätzten Anwesenheit zu beehren …« Und auf diese Tour geht es noch eine Weile weiter: Mit zuckersüßen Worten predigt er die Unterwerfung und veranschaulicht seinen Sermon hier und da durch Anekdoten über irgendwelche Missetaten. Offenbar ist Vern vor zwei Tagen so sturzbesoffen gewesen, dass er auf der Hauptstraße hingefallen ist und gekotzt hat. Erica und Kate hatten eine derart heftige Schlägerei, dass Erica ins Krankenhaus musste, zusammen mit Greg und Brook, die versucht hatten, Kate von ihr wegzuzerren. Inzwischen sitzt Kate für einige Tage im Gefängnis und zahlt bei Wasser und Brot den Preis für ihr Ausrasten. Als Fiore endlich damit fertig ist, Kate verbal zu teeren und zu federn, machen sich in der Gemeinde unterschwellig Wut und Missbilligung bemerkbar.
Ich versuche, unauffällig zur Seite, zu Cass hinüber zu blicken. Zwar kann ich in ihrem Gesicht nicht lesen - der Schleier sorgt dafür, dass ihr Mienenspiel nicht zu erkennen ist -, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie verängstigt ist. Ihre Schultern sind wie zur Verteidigung zusammengezogen und sie hat sich leicht von Mick weggeneigt.
Kaum sind wir draußen, an der frischen Luft, schnappe ich mir ein Glas Wein und stürze es hinunter. Dabei halte ich mich eng an Sam, der mich beunruhigt beobachtet. »Ist irgendwas?«, fragt er. »Ja. Nein. Ich weiß es nicht genau.« Ich hab Schmetterlinge im Bauch. Von allen Ehefrauen der Schar Sechs ist Cass diejenige mit den wenigsten Kontakten, weil sie nie nach draußen durfte. Könnte Sam mich von irgendwas abhalten, das ich mir in den Kopf gesetzt habe? Mick ist reines Gift. Nicht das subtile, soziale Betäubungsmittel, das Jen darstellt, sondern das sofort wirkende Gift eines Insektenstichs - brutal und direkt.
»Ich möchte was herausfinden. Bin gleich wieder da, okay?«
»Reeve - sei vorsichtig, ja?«
Ich sehe ihm in die Augen. Er macht sich ja tatsächlich Sorgen um mich! Ich nicke beschämt und schlängle mich zum vorderen Haupteingang der Kirche durch.
Mick spricht gerade mit einer kleinen Gruppe hart wirkender Männer, die alle gestählte Muskeln und kurz geschorenes Haar haben, und gestikuliert wild herum. Ich habe diese Männer schon gesehen, bei Bauarbeiten. Sie haben die Straße mit unglaublich lauten Maschinen aufgerissen und später wieder zugeschüttet. Zwei Kirchendiener stehen in der Nähe, außerdem warten einige Frauen am Eingang.
Als ich mich zur vorderen Tür schleiche und hineingehe, stelle ich fest, dass die Kirche sich mittlerweile geleert hat. Nur eine einzige Person steht noch herum, an der hintersten Bankreihe. »Kay? Cass?«
Sie sieht mich an. »R… Reeve?«
Da es dunkel ist, kann ich es nicht mit Sicherheit sagen, aber sie hat so dick Lidschatten aufgetragen, dass sie vermutlich ein Veilchen übertüncht hat. Falls Mick Cass verprügelt hat, ist ihr Kleid jedenfalls bestens geeignet, jede Spur von Misshandlung zu verbergen. »Alles in Ordnung mit dir?«, frage ich.
Sie blickt zum Eingang. »Nein«, flüstert sie. »Hör zu, er ist … Misch dich nicht ein, klar? Du brauchst mir nicht zu helfen. Halt Abstand zu mir.« Ihre Stimme zittert, und es schwingt, kaum merklich, Angst mit.
»Ich hab versprochen, hier drinnen Ausschau nach dir
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