Glashaus
dem tyrannischen Druck der Geschlechterrollen nachzugeben, und werden erst zufrieden sein, wenn alle anderen es genauso machen und wie sie um Pluspunkte konkurrieren. Hat das auch bei den Frauen der dunklen Epoche so funktioniert, bei den zufälligen Opfern eines genetisch begründeten Determinismus? Im Unterschied zu ihnen sind wir freiwillige Teilnehmer und Teilnehmerinnen an einem Experiment, das ganz offen durch Belohnung und Strafe gelenkt wird. Falls es für unsere Vorgängerinnen genauso schlimm war, habe ich Glück gehabt: Ich muss nur noch drei Jahre durchhalten.
Das Dasein als Ehefrau ist ein einsames Geschäft. Sam und ich führen unsere Leben weitgehend unabhängig voneinander. Morgens geht er zur Arbeit, und ich sehe ihn nur abends, wenn er müde ist, oder an Sonntagen. An den Sonntagen besuchen wir gemeinsam die Kirche, weil uns die Angst verbindet, andernfalls an den Pranger gestellt zu werden. Und danach kehren wir nach Hause zurück und versuchen einander zum Trost ins Gedächtnis zu rufen, dass diejenigen, die sich für den Punktestand prostituieren und sich unterwürfig jeden von Fiore hingeworfenen Hinweis auf korrektes Verhalten einverleiben, nicht gerade die schlausten oder vernünftigsten Menschen sind. Manchmal ist das für Sam wie für mich mühselige Überzeugungsarbeit.
Es ist wirklich ein Jammer, dass Sam ein Mann ist und die innere Dynamik dieser engen Gemeinschaft eine künstliche Barriere zwischen uns errichtet hat. Ich habe das Gefühl, ich könnte ihn mit der Zeit mögen, wäre der äußere Druck auf uns beide nicht so stark.
Und dann ist da noch Cass, die am letzten Sonntag in der Kirche war.
Wir leben in einer wirklich sehr kleinen, eng begrenzten und streng kontrollierten künstlichen Welt. Und sie ist so organisiert, dass ihre Künstlichkeit einem in mancher Hinsicht direkt ins Auge springt. Beispielsweise gibt es bei uns eigentlich keine modischen Strömungen, jedenfalls nicht im Sinne einer spontanen Kreativität des Designs, die Wellen schlägt, Nachahmer findet und immer komplexere Muster hervorbringt. (Kreativität ist ja selbst unter günstigsten Umständen nicht eben weit verbreitet. Und da bis jetzt kaum Hundert von uns in diesem Gemeinwesen leben, gibt es hier einfach nicht genügend Ideenreichtum, der Wellen schlagen könnte.) Stattdessen haben wir nur einen merkwürdig wildwüchsigen Ersatz für Mode, nämlich das Spektrum von Produkten, das die Läden anbieten. Offenbar existiert irgendwo ein Katalog modischer Stile aus der dunklen Epoche, der die Zeit überdauert hat (vermutlich ein Verzeichnis aus Museumsbeständen), denn die Geschäfte wechseln ihre Auslagen mit schöner Regelmäßigkeit. Also sind wir gezwungen, uns entweder alle paar Megasekunden neu einzukleiden oder hinter der Mode herzuhinken. Und auch das zählt zu den Maßnahmen, die die Konformität vorantreiben sollen: Wenn man den Inhalt seiner Garderobe nicht auf den neuesten Stand bringt, bietet man offene Angriffsflächen.
In diesem Monat sind Hüte der neueste Schrei, lächerliche Modeartikel mit breiten Krempen und Netzschleiern, die das Gesicht verhüllen. Allerdings komme ich mit Hüten einigermaßen klar, auch wenn ich die Krempen und Schleier nicht ausstehen kann: Ständig bleiben sie irgendwo hängen und behindern einen.
Doch zurück zu Cass, auf die sich meine Hoffnungen und Ängste konzentrieren.
Wie üblich stehe ich in der Kirche neben Sam, halte das Gesangbuch, bewege die Lippen und lasse meine Blicke durch die Menge auf der anderen Seite des Mittelgangs schweifen. In der letzten Woche ist eine neue Schar angekommen, und die Kirche ist voll - bald wird man sie ausbauen müssen. Ich versuche die Neuankömmlinge ausfindig zu machen, denn ich möchte sie nicht mit den älteren Gruppen durcheinanderbringen. Vielleicht hat Jens berechnender Zynismus auch ein bisschen auf mich übergegriffen: Wenn ich weiß, wie lange jemand hier ist, kann ich den Grad seiner Anpassung ungefähr abschätzen. Solange die Neuen noch nicht richtig konditioniert sind und diejenigen, die für Punkte alles tun, sie noch nicht in den Klauen haben, kann ich vielleicht einige Verbündete unter ihnen finden.
Seltsamerweise sitzt und steht Mick in dieser Woche bei den Neuen. Als ich automatisch die Frau an seiner Seite mustere, stutze ich: Sie trägt ein langärmeliges blaues Kleid mit hohem Kragen und einen Hut mit schwarzem Schleier, der ihr Gesicht verbirgt. Rund um die Augen hat sie dick Make-up aufgetragen. Ihr
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