Glashaus
dass es eher Erinnerungen aus zweiter Hand sind. Eindeutig habe ich fast alles, was ich früher einmal beherrschte, vergessen. Irgendetwas an meiner Technik ist falsch, denn die Stücke von Federstahl, die ich zusammenzuschweißen versuche, werden an den Nahtstellen immer wieder brüchig. Als ich das letzte Teil in den Schraubstock einspannen will, zerreißt das Verbindungsstück, in das ich gerade eine ganze Stunde Arbeit gesteckt habe, und mir fliegen winzige Bruchstücke um die Ohren. Hätte ich etwas weiter links gestanden, wäre mir vielleicht ein Teilchen ins Auge gedrungen. Doch es reicht auch so zu einem üblen Schock, deshalb gehe ich ins Haus, um zu überlegen, was wir zu Abend essen sollen. Normalerweise kommt Sam um diese Zeit von der Arbeit zurück. Und wenn man ihn sich selbst überlässt, wird er sich eher vor den Fernseher legen, als mit mir zusammen ein Essen für uns beide vorzubereiten.
Also stehe ich allein in der Küche und wühle mich durch die Fertiggerichte in der Tiefkühltruhe, um etwas herauszusuchen, das wir beide mögen. Dabei schaffe ich es, eine Pizzaschachtel auf den Boden fallen zu lassen, und zwar so, dass sie aufplatzt und der Inhalt sich überall verteilt. Es ist einer dieser Momente, in dem man das Gefühl hat, alles stürzt über einem zusammen, und dann merkt man plötzlich, wie einsam und verlassen man ist. All die eigenen Probleme scheinen einem ins Gesicht zu lachen. Du machst dir doch nur selbst was vor, stimmt’s?, frage ich mich und breche auf der Stelle in Tränen aus.
Ich bin in einem völlig ungeeigneten Körper gefangen und habe nur fragmentarische Erinnerungen an mein früheres Ich. Doch diese Erinnerungen sind ein Pfahl im Fleisch, der mich zur Suche nach einem besseren Leben anstachelt. Ich sitze im Spiegelkabinett eines Vergnügungsparks fest, das wie durch Zerrspiegel eine historische Gesellschaft reflektiert, in der jeder von seiner Grundeinstellung her verrückt war - in den Wahnsinn getrieben von irrationalen Gesetzen und unsinnigen Sitten. Hier bin ich also, glaube mich daran zu erinnern, in der Reha-Klinik gewesen zu sein und dort einen Brief gelesen zu haben, den eine frühere Version von mir an mich geschrieben hat. Aber woher soll ich wissen , ob tatsächlich ich diesen Brief geschrieben habe? Ich erinnere mich ja nicht einmal daran, ihn verfasst zu haben! Genauso gut ist es möglich, dass ich mir das alles nur zusammengereimt habe. Vielleicht habe ich aus purer Langeweile versucht, einem ansonsten uninteressanten Leben einen aufregenden Touch zu verleihen. Jedenfalls kommt mir das Geschwafel über Leute, die mir nach dem Leben trachten, von Tag zu Tag weniger plausibel und immer realitätsferner vor - sogar völlig unglaubwürdig, wäre da nicht dieser Mann mit dem Drahtschwert gewesen.
Warum sollte mir irgendjemand nach dem Leben trachten? Mir fällt kein einziger Grund ein. Und selbst für einen stümperhaften Attentäter, der noch in der Ausbildung ist, wäre es derzeit bestenfalls eine triviale Sache, mich umzulegen. Ich kann ja nicht einmal eine gefrorene Pizza in die Mikrowelle schieben, ohne sie auf den Boden fallen zu lassen. Ich verbringe meine Mußestunden in der Garage, versuche eine Armbrust zusammenzuschweißen und bin eifrig bemüht, mir ein Schwert zu schmieden. Während die Schurken, falls sie wirklich existieren, ein ganzes Kuriositätenkabinett betreiben - eine Gesellschaft totaler Überwachung kontrollieren - und über Waffen verfügen wie die auf dem Kirchenaltar. Waffen, an deren Rändern seltsame Lichtkonzentrationen im Regenbogenspektrum von Laserstrahlen schimmern - Wellenleiter für die Generatoren von Wurmlöchern. Messer, die durch Raumzeit schneiden können. Sie werden mich bei hellem Tageslicht holen kommen, unterstützt vom ganzen Tross des Polizeistaats, von den Zensoren der Erinnerung und den Programmierern unserer Existenzen. Ich kann nirgendwohin flüchten, es gibt keinen Weg hinaus, außer durch die von den Versuchsleitern kontrollierten T-Tore, und auch keinen Weg hinein. Und ich weiß nicht einmal, ob ich Kay verloren habe und ob Kay Cass oder jemand ganz anderes ist. Mir ist auch nicht klar, warum ich zugelassen habe, dass Piccolo-47 mich zur Teilnahme an diesem Experiment überredet hat. Alles, was ich habe, sind meine Erinnerungen, und selbst auf die ist kein Verlass.
Ich fühle mich hilflos, verloren und sehr, sehr armselig, als ich durch einen Tränenschleier auf die Pizza starre. Und genau in diesem Moment
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