Glashaus
mir ein Taxi bestellt, um einkaufen zu fahren. Doch dann hab ich dem Fahrer gesagt, er soll nur eine Runde drehen und mich gleich hinter dem Tunnel am anderen Ende der Straße absetzen. Schon komisch, wem man in dieser Gegend begegnen kann.« Sie lächelt so, dass ihre perfekten, scharfen Raubtierzähne zu sehen sind.
»Wem?«, fragt Alice pflichtschuldig, denn wie immer braucht Jen ein Publikum.
»Etwa zehn Minuten, nachdem Esther ins Haus gegangen ist, taucht Phil in einem Taxi auf. Er schickt es weg, klingelt an der Tür und kommt erst nach einer Stunde, vielleicht auch zwei Stunden, wieder heraus.«
»Pfui«, sagt Angel missbilligend, während Alice nicht sonderlich entrüstet wirkt.
»Kapiert ihr’s denn nicht?«, fragt Jen. »Öffentlich ist noch nichts bekannt. Das gibt uns ein Druckmittel in die Hand.« Sie spießt einen Broccolistamm auf und zerteilt ihn, indem sie mit den Zähnen einen Strang nach dem anderen herunterzerrt. »Es gibt ein Wort dafür: Ehebruch . Solange es im Geheimen geschieht, verliert man dadurch keine Punkte. Aber wenn’s herauskommt …«
» Wir wissen es jetzt«, fällt Angel ihr ins Wort. »Warum also …«
»Weil wir nicht zur Schar Drei gehören, im Unterschied zu Esther, Mal und Phil. Der … äh … Gruppendruck kann nur von Angehörigen derselben Gruppe ausgeübt werden. Aber wir haben was gegen Esther und Phil in der Hand, denn wenn wir’s mal erzählen, verliert die ganze Gruppe jede Menge Punkte.«
»Mir ist nicht gut«, sage ich, lege mein Messer nieder und rücke den Stuhl vom Tisch weg. »Ich brauche frische Luft.«
»Ist es wegen dem, was ich gesagt habe?«, fragt Jen beiläufig und so, als wäre sie tatsächlich besorgt.
Ich beherrsche es immer besser, ohne mit der Wimper zu zucken zu lügen. Eigentlich glaube ich nicht, dass ich es früher gut konnte, aber durch das viel zu häufige Zusammensein mit Jen habe ich einen Crash-Kurs in Verlogenheit absolviert. »Das hat nichts mit dir zu tun - ich muss wohl was Falsches gegessen haben«, sage ich im Aufstehen.
Ich versuche, nicht aufzufallen, Jen und die anderen nicht zu brüskieren und in der Öffentlichkeit nicht exzentrisch zu wirken, aber das, was ich ertragen kann, hat seine Grenzen. Und stillschweigend in ein Komplott einbezogen zu werden, das auf Erpressung hinausläuft, ist mir schlichtweg zu viel. Morgen oder übermorgen werde ich ihnen wieder zulächeln müssen, doch im Augenblick möchte ich allein sein. Also gehe ich nach draußen, wo eine sanfte Brise weht, spaziere bis zum Ende des Häuserblocks und überquere die Straße. Es herrscht kaum Verkehr (keiner von uns realen Menschen fährt ein Automobil - das wäre viel zu gefährlich), und die Zombies sind darauf programmiert, den Fußgängern Vortritt zu lassen, deshalb schaffe ich es einigermaßen schnell, in den Park zu gelangen.
Der Park ist ein halb domestiziertes Biotop. Das Gras ist ordentlich geschnitten, die großen Laubpflanzen sind sorgfältig gestutzt, und der kleine Wasserlauf, der sich durch den Park schlängelt, ist gezähmt; mehrere Fußgängerbrücken führen hinüber. Zu den großen Vorzügen des Parks gehört, dass er um diese Tageszeit fast leer ist, bis auf einen Zombie, der Wartungsarbeiten verrichtet, und vielleicht noch ein paar Ehefrauen, die mit ihrer Zeit nichts Besseres anzufangen wissen. Ich spaziere den gepflasterten Weg entlang, der vom Rand des Geschäftsviertels zu dem kleinen Gehölz am Ufer des Sees führt, auf dem man Boot fahren kann.
Während ich auf den See zugehe, werde ich innerlich nach und nach ruhiger. Die Simulation hat uns heute einen sonnigen Tag beschert. Hoch am Himmel ist eine einzige kleine Wolke zu sehen, und es weht eine träge Brise, die nur gelegentlich so auffrischt, dass sie durch die Kleidung hindurch meine Haut abkühlt. Abgesehen von dem ständigen staccatoartigen Gezwitscher der faustgroßen Dinosaurier in den Bäumen ist es hier recht friedlich. Fast gelingt es mir, die ständig in mir schwelenden Gefühle von Wut und Erniedrigung zu verdrängen. Offenbar legt es Jen bewusst darauf an, solche Empfindungen bei uns Übrigen auszulösen.
Wie sehr ich mich auch bemühe, ich kann nicht in die Fußstapfen der anderen Frauen treten. Es kommt mir so vor, als merkten sie gar nicht, dass man das System auch austricksen kann, indem man es ignoriert und das Mitspielen verweigert, anstatt sich auf die öffentlichen Belohnungen und Strafen einzulassen. Sie alle haben sich unbewusst dazu entschlossen,
Weitere Kostenlose Bücher