Glashaus
Lüge gewesen. Und der einzige Mensch, den ich hier drinnen bislang noch nicht belogen habe, ist Sam. Wenn ich jetzt damit anfange, ihn zu belügen, ist es so, als überschritte ich unwiderruflich eine unsichtbare Grenze. Da ich mich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen muss und weiß, wie trügerisch meine Erinnerungen sind, könnte ich die Wahrheit irgendwann nicht mehr von Hirngespinsten unterscheiden.
»Du stellst also gewisse Dinge her.« Er dreht das Glas in den großen Händen hin und her. »Hättest du Lust, einen Job außer Haus anzunehmen?«
»Einen Job?« Das kommt völlig überraschend für mich. »Wieso?«
Er zuckt die Achseln. »Um Menschen zu begegnen, aus dem Haus zu kommen, Leute kennenzulernen, die sich nicht unbedingt für Punkte prostituieren. Diese Frauen machen dir doch zu schaffen, stimmt’s?«
Ich nicke stumm.
»Das überrascht mich nicht.«
Während ich mein Glas leere, schweigt er taktvoll.
Zu meiner Verblüffung fühle ich mich schon ein bisschen besser. Eine Arbeit annehmen! »Wie finde ich einen Job? Ich meine, schließlich bin ich ja kein Mann …«
»Du gehst einfach bei der Handelskammer vorbei und fragst nach einem.« Er setzt sein Glas ab. Ich sehe es an und blicke danach auf die beiden Schnecken, die an den gegenüberliegenden Seiten desselben Grashalms hinaufkriechen und dabei schillernde Schleimspuren hinterlassen. »Genauso einfach ist es. Man wird dir einen Wagen schicken, der dich abholt und irgendwohin bringt, wo Platz für einen menschlichen Körper ist. Bei der Ankunft haben sie dich zwar nicht zum Einführungskurs eingeladen, aber die Sache ist keineswegs schwierig. Ich weiß natürlich nicht, was sie für dich finden und wie viel sie dir bezahlen werden. Ich schätze, es wird viel weniger sein, als sie Männern geben - offenbar haben sie das in der dunklen Epoche so gehandhabt. Aber wenn du diesen Job zu langweilig findest, kannst du immer noch zur Handelskammer gehen und um eine andere Arbeitsstelle bitten.«
»Ein Job«, sage ich und versuche, dem Wort irgendeinen Sinn zu verleihen. Eigentlich ist diese Vorstellung ja wirklich verrückt, allerdings auch nicht verrückter als alles Sonstige in diesem künstlichen Universum. »Ich wusste gar nicht, dass ich einen bekommen kann.«
Er zuckt die Achseln. »Es ist nicht verboten oder sonst wie anrüchig.« Er sieht mich von der Seite an. »Es gehört nur nicht zu ihrem Basisprogramm. Auch das zählt zu den Dingen, die wir tun dürfen, falls wir schlau genug sind, daran zu denken.«
»Und ich werde Menschen begegnen.«
»Das hängt von deiner Arbeitsstelle ab.« Einen Moment lang wirkt Sam unsicher. »Bei den meisten Jobs bist du von Zombies umgeben. Allerdings versuchen sie, mindestens zwei Menschen bei allen Arbeitsstellen zu beschäftigen. Außerdem gibt es Besucher. Aber es ist ziemlich langweilig. Ich dachte gar nicht, dass es dich interessieren könnte.«
»Es kann unmöglich derart geisttötend sein wie das hier!« Ich balle die Hände zu Fäusten.
»Schließ besser keine Wetten darauf ab.« Er schüttelt den Kopf. »In der dunklen Epoche war die Arbeit oft sinnentleert, unangenehm und manchmal auch gefährlich.«
»Jedenfalls nicht so gefährlich für meinen Geisteszustand, wie hier herumzuhängen und gar nichts zu tun!«
»Das ist die Reeve, die ich kenne.« Sam lächelt strahlend, ein Gesichtsausdruck, den ich nicht oft bei ihm sehe. Dieses Lächeln löst bei mir echte Neidgefühle in Bezug auf die glückliche Frau aus, die er jenseits dieser Welt zurückgelassen hat. »Ich hol dir noch was zu trinken, und dann mach ich uns was zu essen. Wie wär’s, wenn wir zur Abwechslung mal hier draußen essen anstatt im Haus?«
»Klingt wunderbar«, sage ich begeistert. »Ist mal was anderes.«
In den frühen Morgenstunden schrecke ich aus einem meiner wiederkehrenden Albträume hoch.
Ich habe ganz verschiedene schlimme Träume. Was diesen hier auszeichnet, sind die plastischen Bilder. Wieder einmal bin ich ein posthumaner Mann mit Zügen menschlichen Körperbaus, aber in extremer Weise durch mechanische Stoffwechselsysteme verstärkt, angefangen von der zellularen Ebene. Anstelle von Eingeweiden verfüge ich über eine kompakte Fusionszelle, durch die ich Stoffe in mich aufnehmen kann. Ich habe drei Herzen, um die diversen in mir zirkulierenden Flüssigkeiten in Umlauf zu halten. Meine Haut ist mit einem Netz aus Diamantfasern verstärkt, und ich kann stundenlang im Vakuum überleben. Dieses ganze
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