Glashaus
Bibliotheksarbeit klingt nicht so, als wäre sie hart, aber wenn man elf Stunden lang mit einer einzigen einstündigen Pause um die Mittagszeit arbeitet, ist man hinterher wie ausgelaugt. Tagsüber ist kaum Kundschaft da, aber jeden Abend gegen sechs gibt es eine kurze Stoßzeit, in der ich hin und her eilen muss, um nach Leihkarten zu suchen, zurückgebrachte Bücher zu erfassen, Bußgelder zu kassieren und bestimmte Dinge zu sortieren. Am nächsten Morgen schiebe ich dann ein Wägelchen durch die Regalreihen, sortiere die zurückgebrachten Bücher wieder ein und hole alles heraus, was an falscher Stelle eingeordnet wurde. Wenn dann noch Zeit ist, staube ich die Regale ab, die nach unserem Plan fällig sind.
»Woher weißt du, dass die Bücher erkennen können, dass sie gelesen werden?«, frage ich Janis mitten am Vormittag meines zweiten Arbeitstages. »Ich meine, zum Beispiel dieses hier.« Ich halte es so, dass sie es sehen kann, ein großes, grünes, in Leinen gebundenes Buch mit dem Titel Der häusliche Gemüsegarten .
»Schau mal.« Janis nimmt es mir aus der Hand und biegt den Einband zurück, sodass sich auch der Schutzumschlag aus Kunststoff biegt.
Ich mustere ihn. »Aha.« Ich kann darin etwas erkennen, das einer zerquetschten Fliege ähnelt, zwei haarfeine Fäden, die bis zur Naht am Buchrücken reichen. »Und das sind …?«
»Glasfasern, nehme ich an.« Als Janis das Buch schließt und wieder auf das Wägelchen legt, summt sie vor sich hin. »Ich glaube nicht, dass sie einen hören können, aber sie können erfassen, welche Seite aufgeschlagen ist, und die Bewegung deiner Augäpfel verfolgen. Die Versuchsleiter haben darauf geachtet, uns allen unterschiedliche Gesichter und zwei funktionierende Augen zu geben. Das ist kein Zufall. Es war nicht bei all unseren Vorfahren so. Wenn du heimlich ein Buch lesen möchtest, musst du eine verspiegelte Sonnenbrille aufsetzen und eine Stoppuhr benutzen, damit du jede Seite nach derselben Zeitspanne umschlägst.«
»Woher weißt du das alles?«, frage ich voller Bewunderung. »Du klingst ja wie ein professioneller …« Das Wort Spion liegt mir auf der Zunge, aber ich schlucke es mit einem leichten Schauer herunter.
»Ehe ich in die Klinik ging, war ich polizeiliche Ermittlerin.« Sie sieht mich eindringlich an. »Und das bringt Fähigkeiten mit sich, die ich nicht löschen lassen wollte. Dachte, ich könnte sie in meinem neuen Leben vielleicht ganz gut gebrauchen.«
»Aber was hast du …« Ich beiße mir gerade noch rechtzeitig auf die Zunge. »Vergiss die Frage.«
»Klar doch.« Sie kichert trocken. »Hör mal, angeblich ist es hier so üblich, dass man ein, zwei Wochen vor der Geburt ins Krankenhaus geht und danach noch zwei Wochen dableibt. Darf ich«, sie zögert, »darf ich dich um einen großen Gefallen bitten?«
»Wie? Ja, sicher«, erwidere ich verständnislos.
»Ich schätze, ich werde die meiste Zeit im Bett verbringen müssen und mich zu Tode langweilen. Und man kann tagsüber ja auch nur eine gewisse Zeit fernsehen. Norm arbeitet, deshalb kann er mir nicht Gesellschaft leisten. Würde es dir was ausmachen, mich zu besuchen und mir ein paar Bücher aus der Bibliothek mitzubringen? Damit ich auf dem Laufenden bleibe?«
»Klar, das mach ich doch gern!« Das sage ich völlig aufrichtig, ich meine es wirklich so. Falls ich je für drei oder vier Zyklen in irgendeinem Krankenhaus der dunklen Epoche landen würde, wäre ich ja auch froh über Besuch. »Du gibst mir Bescheid, was du haben möchtest, ja?«
»Das ist prima.« Janis klingt dankbar. »Wenn du jetzt die kleine Trittleiter holen könntest? Diese Bücher hier kommen aufs oberste Regalbrett, und ich kann nicht so hoch greifen wie du.«
An meinem dritten Arbeitstag bin ich mit Jen, Angel und Alice zum Mittagessen verabredet. Jen hat als heutigen Treffpunkt das Café Dominion vorgeschlagen. Als ich von der Bücherei aus dorthin laufe, pfeife ich lautlos vor mich hin, denn ich fühle mich seltsam zufrieden. Ich habe eine neue Beschäftigung gefunden, verfüge über eine eigene Einkommensquelle und weiß Dinge, von denen die Damen der Mittagsrunde keine Ahnung haben. Wenn ich nur nicht die Hälfte meiner wachen Stunden damit verbringen würde, mich vor der Zukunft zu ängstigen und mir dabei zu wünschen, ich könnte aus diesem gläsernen Gefängnis ausbrechen und mich wieder mit Kay zusammentun, wäre ich wahrscheinlich recht glücklich.
Das Café Dominion ist um einiges feudaler, als sein
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