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Glashaus

Titel: Glashaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Stross
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ein anderes Universum gibt. Wer weiß? Werde ich mich nach einer Gigasekunde überhaupt noch daran erinnern, dass ich früher anders gelebt habe? Es ist ja nicht so, dass mein vor dem Eingriff existierendes früheres Ich mir viel hinterlassen hätte, an dem ich mich festhalten kann …
    Andererseits könnte ich versuchen herauszufinden, was hier wirklich gespielt wird. Fiore und sein Boss - die graue Eminenz, Bischof Yourdon - haben etwas Bestimmtes mit diesem Gemeinwesen vor, so viel ist klar. Das hier ist nicht einfach nur eine experimentelle Gemeinschaft zum Studium der alten Zeiten. Allzu viele Aspekte der Versuchsanordnung entpuppen sich als schlichtweg falsch, als nicht authentisch, wenn man sie näher untersucht. Falls ich herausbekomme, was die Versuchsleiter hier durchziehen wollen, finde ich vielleicht auch einen Weg nach draußen.
    Nur deshalb verbringe ich eine halbe Ewigkeit mit der mühseligen Arbeit, eine Rolle Kupferdraht nach der anderen aus der Isoliermasse zu lösen und auf den Webrahmen zu spannen. Wenn ich herausfinden will, was hier gespielt wird, muss ich mir als Erstes eine gewisse Privatsphäre sichern. Und dazu brauche ich nicht nur einen Wanzenkiller (sprich: den umfunktionierten neuen Mikrowellenherd), sondern auch ein Netz aus Kupfermaschen als Auskleidung für meine Schultertasche. Aber einen solchen Faradaykäfig kann ich natürlich in keinem der Läden bestellen, denn damit würde ich sofort einen Alarm auslösen.
    Ich brauche fast zwei Wochen, um das einen Quadratmeter große, breitmaschige Netz aus Kupferdraht herzustellen, wobei ich im Dunkeln arbeite und auf meinen Tastsinn angewiesen bin. Das Arbeitsmaterial ist wirklich schwer zu handhaben. Dauernd brechen die einzelnen Stränge ab oder biegen sich durch, und man braucht endlos lange, um die Isoliermasse abzulösen. Außerdem muss ich tagsüber ja regelmäßig in der Bücherei arbeiten.
    Janis klagt mittlerweile über leichte Rückenschmerzen und verbringt jeden Morgen viel Zeit auf der Toilette. Und wenn sie wieder herauskommt, ist sie blass um die Nase. Leider nimmt ihr das auch die Lust an den ironischen Bemerkungen und Spötteleien. Rund um ihre Taille ist bereits eine Wölbung zu sehen. Sie ist durchaus tapfer, aber ich glaube, insgeheim hat sie furchtbare Angst. Die Aussicht darauf, wie ein Tier zu gebären (mit all den damit verbundenen Risiken und Schmerzen), würde ja jeden in Angst und Schrecken versetzen, doch hinzu kommt die grässliche Vorstellung, später auf unbestimmte Zeit an diesen Ort gefesselt zu sein. Denn zwangsläufig wird das Produkt des eigenen Schweißes und Blutes später die Rolle der Geisel spielen, damit man kooperiert. Mich beschäftigt die Frage, warum es hier keine Widerstandsbewegung gibt. Meiner Meinung nach muss jeder, der in einer rundum überwachten Gesellschaft eine Widerstandsbewegung organisieren will, überaus verschwiegen sein (oder aber überaus naiv). Trotzdem frage ich mich, warum ich bislang nicht einmal Anzeichen eines heimlichen Widerstands ausmachen konnte.
    In der Bücherei bin ich die Verfassung des YFH-Gemeinwesens durchgegangen (eine für jedermann einsehbare Kopie liegt vorne auf einem Lesepult aus). Was darin fehlt, ist ebenso wichtig wie das, was darin festgeschrieben ist. Bei den Grundrechten ist ausdrücklich das Recht auf Leben aufgeführt. Und wenn man in einigen Geschichtsbüchern über die dunkle Epoche nachliest, merkt man, dass darunter keineswegs das zu verstehen ist, was ein naiver Mensch der Neuzeit annehmen würde. Im Folgenden wird jeder Anspruch auf eine Privatsphäre explizit für nichtig erklärt. Und das bedeutet, dass die Versuchsleiter das Recht auf Leben auch gegen meinen Willen durchsetzen können. Pfui Teufel! Die Verfassung ist ein genau spezifiziertes, öffentliches Vertragswerk, das die Parameter definiert, nach denen sich das Rechtssystem des Gemeinwesens ausrichtet. Ehe ich hierherkam, maß ich dem keine Bedeutung zu, doch jetzt macht es mir Angst. Außerdem ist mir aufgefallen, dass an keiner Stelle das Recht auf freie Ortswahl erwähnt wird. Und in wirklich allen menschlichen Gemeinwesen ist das seit Langem ein allgemein anerkannter Rechtsgrundsatz. Er wurde nach den Zensurkriegen eingeführt, als die letzten Widerstandsnester ausgehoben wurden, in denen sich Curious Yellow und die das Gedächtnis kontrollierenden Diktaturen verschanzt hatten. Die menschliche Geschichte hört im Jahre 2050 auf, soweit es die Bücherbestände in dieser Bibliothek

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