Glasklar
Mausklick – oder indem man die Dummen schikaniert und für sich arbeiten lässt. Und jetzt frag ich dich, Katrin, wer ist dumm? Ist dumm derjenige, der draußen arbeitet, der mit seiner Hände Arbeit wirklich zur Steigerung des Bruttosozialprodukts beiträgt? Ist das nicht schlimm, dass diese Menschen, die unser System noch einigermaßen am Laufen halten, dass die als dumm dargestellt werden? Dass diese Menschen am Existenzminimum kratzen? Dass sie trotz eines Fulltime-Jobs ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten können? Diese Verhältnisse kennen wir doch – spätes 19. Jahrhundert und so.« Bayreuter war nicht mehr zu bremsen, wenn er über soziale Ungerechtigkeit dozierte. »Modernes Sklaventum. Ich behaupte das aus voller Überzeugung – auch wenn schlaue Politiker jetzt gleich über mich herfallen und behaupten würden, das sei Stammtischgeschwätz. Ich bleib dabei: Das ist modernes Sklaventum. Und dann stellen sich diese Politiker hin und erklären den Menschen, was besser verdienend sei. Um es überspitzt zu sagen – die gehen doch schon ab 1.500 netto davon aus, dass man besser verdienend sei. Dabei haben die doch gar keine Ahnung, nicht den Schimmer einer Ahnung, was der Lebensunterhalt heute kostet.« Er nahm einen Schluck Saft und lehnte sich dann zurück. »Ausgerechnet die, die in diversen Aufsichtsräten hocken, hier abzocken, da abzocken – dort was nach Liechtenstein schieben und hier eine schwarze Kasse haben –, ausgerechnet die repräsentieren auch irgendwelche Verbände, die über die Lohn- und Gehaltstarife bestimmen. Nein, Katrin, wenn ich über all dies nachdenke, könnte ich explodieren. Der Redner …«, er besann sich wieder auf den Ausgangspunkt seiner Ausführungen, »hat gesagt, wenn wir weiterhin die Probleme in dieser Republik tabuisieren, sie totschweigen oder schönreden, dann sei dies wie mit dem Ventil eines Schnellkochtopfs. Es koche vor sich hin, und irgendwann fliegt uns alles um die Ohren.«
Katrin runzelte die Stirn. Uli sprach ihr aus dem Herzen.
Nach ein paar Sekunden des Schweigens beugte sich Bayreuter vor und legte seine linke Hand auf ihren rechten Unterarm. »Bei allem, was uns bewegt und belastet, sollten wir nicht vergessen, dass es irgendwo jemanden gibt, der uns in jeder Situation Kraft gibt, wenn wir nur auf ihn vertrauen.« Er sah Katrin fest in die Augen und fügte hinzu: »Kommet zu mir, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken. – Matthäus elf, Vers achtundzwanzig.«
Linkohr war den ganzen Vormittag über unruhig gewesen. Seit gestern Vormittag hatte er Mariella nicht mehr gesehen und nur ein einziges Mal kurz mit ihr telefoniert. Dass er sich jetzt von der Sonderkommission davonstehlen musste, weil sie sich für eine Stunde treffen wollten, war ihm peinlich. Aber nachdem er den Kollegen erklärt hatte, er müsse »kurz was Wichtiges erledigen«, war ihnen offenbar bewusst geworden, worum es sich nur handeln konnte. Bisher jedenfalls hatte sich der junge Kriminalist nie davongemacht, wenn sie mitten in einem großen Fall steckten. Als er draußen war, frotzelte Speckinger deshalb: »Der Herr Kollege geht auf private Recherche.«
»Wenn ihm nur nicht wieder sein Auto abhandenkommt«, grinste Häberle, der sich auf einen Termin mit einem Vertreter der Deutschen Bahn AG vorbereitete, mit dem er gleich am frühen Vormittag telefoniert hatte. Es war zwar nicht einfach gewesen, im Labyrinth der Zuständigkeiten einen Verantwortlichen für das Schnellbahn-Projekt zu finden, aber nach mehreren Anläufen und Weiterverbindungen hatte er tatsächlich den richtigen Ansprechpartner bekommen. Häberles Vorurteile gegenüber großen Verwaltungsapparaten war wieder einmal bestätigt worden. Gerade bei der Bahn gab es seit deren Aufteilung in verschiedene Sparten viele Schnittstellen, die untereinander nicht kompatibel waren. Und er malte sich aus, wie viel Zeit und Energie vertan wurden, um in diesem Wust von Zuständigkeiten zu koordinieren, zu verwalten und Vorgänge hin und her zu schieben. Bei der Bahn gab es gewiss auch eine eigene Abteilung samt Direktoren, die für die Schrauben an den Weichen zuständig sein würde. Jedenfalls hatte sich ein Paul-Gerhard Knappenrot bereit erklärt, sich mit Häberle zu treffen. Der Termin um 14 Uhr war aber nur deshalb so kurzfristig zustande gekommen, weil sich der ›Leiter der Abteilung Planung römisch vier‹ – was immer dies zu bedeuten hatte – eigenen Worten zufolge »ohnehin in
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