Glasklar
Gedanken wieder. Wieso sollte er sich in Dinge einmischen, die ihn nichts angingen? Außerdem hatte ihn ein Lehrer seiner Berufsschule mit dem Verhalten eines jungen Mannes konfrontiert, der sich an keinerlei Regeln halten wollte. Es war ein türkischstämmiger › BVJ ler‹, wie Bayreuter wusste. › BVJ ‹ stand für Berufsvorbereitungsjahr und diente dazu, all jene jungen Leute unterzubringen, die keinen Ausbildungsplatz erhalten hatten. Würden sie die Chance zur besseren Qualifikation nutzen, hätte dies tatsächlich einen Sinn, hatte Bayreuter schon oft erklärt. Doch wer sich, wie viele aus solchen Klassen, weder an Ordnung noch an den Lehrplan hielt, dem war nicht zu helfen. Mehr als zu rügen oder zu ermahnen, blieb den Lehrkräften nicht. Die Politik hatte den Pädagogen jegliche Sanktionsmittel aus der Hand genommen.
Bayreuter musste verärgert daran denken, als er sich nach der Mittagspause, die er mit Verwaltungskram am Computer verbracht hatte, von der Sekretärin verabschiedete, um »einen Termin wahrzunehmen«, wie er ihr sagte. Das stimmte zwar, doch er wollte seinen schulstundenfreien Montagnachmittag dazu nutzen, sich endlich mit Katrin zu treffen, die – wie er noch am Sonntagabend bei einem Telefongespräch erfahren hatte – ab 14 Uhr zu Hause sein würde. Bayreuter, der ein ausgeprägtes Gespür für die Sorgen und Nöte seiner Mitmenschen hatte und sich auch deswegen christlich engagierte, hatte schon lange den Eindruck, dass Katrin mit ihrem Job als Lehrerin überfordert war. Auch sie plagte der Autoritätsverlust, der landauf, landab dazu führte, dass das Bildungsniveau an den Schulen sank. Bayreuter musste diese Problematik nahezu wöchentlich im Lehrerkollegium ansprechen und Ratschläge erteilen, von denen er wusste, dass sie kaum hilfreich sein würden.
Er fand Katrins Wohnung auf Anhieb. Katrin, deren Augen hinter der randlosen Brille müde und stumpf wirkten, führte ihn in ihre kleine Einliegerwohnung. Das Gebäude stand an einem sonnigen Südhang der Gemeinde Salach und war durch aneinandergrenzende Gärten mit viel Grün umgeben. Uli Bayreuter hatte die mädchenhafte Frau zur Begrüßung umarmt und sie dabei mit seinen bärenstarken Armen hochgehoben. Er hätte sich gewünscht, auf der sonnigen Terrasse zu sitzen, doch Katrin zog es vor, im kühlen Wohnzimmer auf der Eck-Couch Platz zu nehmen. Auf dem kleinen Tischchen standen bereits zwei Gläser selbst gepresster Orangensaft.
»Danke, dass du mal vorbeischaust«, sagte sie mit schwacher Stimme, die kaum geeignet war, sich vor einer Schulklasse der heutigen Zeit Respekt zu verschaffen. Es klang beinahe ein bisschen vorwurfsvoll, dachte Bayreuter, denn er hatte ihr schon vor Monaten versprochen, sie einmal zu besuchen. »Um ehrlich zu sein, bin ich ein wenig in Sorge wegen der Sache gestern.«
»Meinetwegen?«, fuhr Katrin unerwartet schnell dazwischen. Sie strich sich mit den Händen über die nackten Oberarme, als fröstele sie.
»Wegen uns allen«, beruhigte Bayreuter und sah an ihr vorbei durch das offen stehende Fenster hinaus. Bunte Blüten leuchteten dort im Sonnenlicht. »Weißt du, es ist ein seltsames Gefühl, dass jemand mit meinem Messer einen Menschen umgebracht hat.«
Katrin holte tief Luft. »Du willst damit aber nicht sagen, dass es einer von uns war?«
Bayreuter zuckte mit den Schultern, die in einem kurzärmligen weißen Hemd steckten. Er hasste zwar derlei Kleidung, aber als Chef einer großen Schule musste er sich mit einer gewissen Etikette abfinden. »Das halte ich für völlig ausgeschlossen«, erwiderte er mit überzeugender Stimme. »Bei allem, was man von Werner so hörte, hat das mit seinem Job oder mit seinen anderen Aktivitäten zu tun, von denen wir relativ wenig wissen. Ich geh aber davon aus, dass die Kripo inzwischen einiges herausgefunden hat.«
»Jeder Mensch trägt etwas mit sich herum«, versetzte Katrin und suchte mit ihren unruhigen Augen irgendeinen Halt im Raum.
»Jeder hat seine ganz persönlichen Probleme – und die ändern sich im Laufe der Zeit«, griff Bayreuter ihre Bemerkung auf. »Weißt du noch, was uns als Kinder oder als Schüler bewegt hat, was uns damals wichtig erschienen ist? Dann die Ausbildung, das …«, er überlegte, ob er es aussprechen sollte, denn er wusste von Katrins gescheiterter Ehe, »ja, das Familiäre und schließlich der Job, der uns an manchen Tagen zermürbt.«
Er wartete auf eine Reaktion, doch Kathrin starrte an ihm vorbei. »Der Job, ja«,
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