Glasklar
Fußballeuropameisterschaft widmen zu können, die derzeit in Österreich und der Schweiz stattfand. Spanien musste gegen Italien antreten, gewiss eine interessante Begegnung, wie er mutmaßte. Er spürte zwar, dass seine Partnerin über sein Desinteresse an einer Radtour enttäuscht war, doch konnte er beim besten Willen diese Strapazen heute nicht auf sich nehmen. Auch sein Magen spielte verrückt. Sander wusste, was kommen würde: Vorwürfe, zu viel getrunken zu haben. Vorwürfe, zu lange am Lagerfeuer ausgeharrt zu haben. Klar, er hatte wieder mal der Letzte sein wollen.
Er sehnte sich nach dem Liegestuhl, der draußen auf der Wiese stand. Einfach hinlegen, die Seele baumeln lassen und dösen. Nächsten Sonntag, das fiel ihm plötzlich ein, würde er dies nicht können. Als Journalist der örtlichen Tageszeitung drohte ihm wieder einer dieser Wochenenddienste, die er hasste, weil er dann allein für die gesamte Produktion verantwortlich war. Nicht nur für die Inhalte der Texte, worin er ohnehin seine wahre Berufung sah, sondern auch für all den technischen Krimskrams, den es mit einer Computertechnik zu bewältigen galt, die er persönlich seit Jahr und Tag als eine Zumutung empfand. Aber auch das konnte ein Generationenproblem sein, wie er sich manchmal eingestehen musste, wenn er beobachtete, wie die jungen Kollegen auf der Tastatur herumhackten und behände mit der Maus klickten, um die gewünschten Einstellungen zu erzielen.
Sander blinzelte gegen die Sonne. Er spürte, wie das Blut in seinen Schläfen pochte und hämmerte. Krampfhaft suchte er nach Formulierungen, mit denen er seine geruhsamen Pläne für diesen Sonntag in Worte kleiden konnte. Doch dann erlöste ihn das Telefon, dessen elektronische Töne wie das Läuten eines dieser nostalgischen Gabelapparate klangen, die heute kaum noch jemand kannte.
Doris verzog das Gesicht, als wolle sie sagen, dass sie jetzt nicht gestört werden wollte. Wortlos erhob sich Sander und eilte die paar Stufen aus dem tiefer liegenden Wintergarten hinauf ins Wohnzimmer, wo das Mobilteil auf dem Bücherregal lag. Er meldete sich und lauschte gespannt auf die Stimme des Anrufers. Mit jedem Wort, das er hörte, begann sein Puls noch mehr verrücktzuspielen.
Nach einer halben Minute des Schweigens beugte sich Doris über ihre Kaffeetasse, um durch das mit Pflanzen umrankte Geländer ins Wohnzimmer hinaufzusehen. Doch Sander war ins Esszimmer gegangen, um sich dort auf einen Stuhl zu setzen. »Und es besteht kein Zweifel, dass er es ist?«, fragte er mit gedämpfter Stimme nach, was seine Partnerin draußen im Wintergarten noch mehr verwunderte. Sie hatte allein an seinem Tonfall erkannt, dass etwas Außergewöhnliches geschehen sein musste, weshalb sie zu ihm eilte.
Als sie neben ihm stand, nickte er ihr ernst zu, als wolle er sie schonend vorbereiten. Noch einmal konzentrierte er sich auf das Gespräch, während seine ohnehin blasse Gesichtsfarbe vollends alle Farbe verlor. »Wieso denn ich?«, zeigte er sich plötzlich erschrocken. »Ich?«, wiederholte er. Doris nahm neben ihm auf einem der gepolsterten Kiefernholzstühle Platz.
Sander spürte, wie seine Kehle trocken wurde. »Eine Frage nur«, wandte er ein, »ist Herr Häberle auch da?«
Die Antwort stellte ihn zufrieden. »Okay, danke. Ich komm rauf. Natürlich.« Dann drückte er die Austaste und legte das Telefon auf die hölzerne Tischplatte. Er überlegte einen kurzen Moment, wie er es sagen sollte, entschied sich aber für die direkte Art: »Werner ist tot.«
Doris starrte ihn entgeistert an. »Werner?«
»Werner Heidenreich«, erwiderte Sander und sah zu den bewaldeten Hängen hinaus.
»Wie – tot? Ich meine … wer hat da angerufen?«
»Die Kripo. Man hat Werner erstochen aufgefunden, beim ›Mammut‹.«
Doris umklammerte die Armlehne. »Erstochen? Heut Morgen?«
Sander zuckte mit den Schultern und holte tief Luft. Ihm war übel. »Irgendwann in den Morgenstunden, sagen sie. Erstochen, ja.« Er konnte es noch immer nicht glauben und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Wann war Werner denn gegangen? Und mit wem? Doch so sehr er sich auch anstrengte, es gelang ihm jetzt nicht, sich das Ende des Sommerfestes vorzustellen. Er hatte einfach zu viel getrunken.
»Und was ist mit seiner Freundin?«
»Keine Ahnung. Ich geh doch davon aus, dass die beiden gemeinsam runter sind.« Er sah seiner Partnerin ins Gesicht.
»Und wieso haben sie jetzt dich verständigt?« Doris hatte oft genug erlebt, wie
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