Glasklar
Georg über die Öffentlichkeitsarbeit der Polizei wettern konnte, wenn die Medien viel zu spät von einem spektakulären Ereignis erfuhren.
»Nicht als Pressemann«, erklärte Sander, »sondern als Beteiligter.«
»Beteiligter?« Es klang erschrocken.
»Als beteiligter Zeuge. Sie versuchen, möglichst viele Personen ausfindig zu machen, die vergangene Nacht auf dem Wasserberg waren. Der Wirt hat ihnen wohl gesagt, dass ich dabei war.«
Doris schluckte. »Und ich auch.«
Sander sprang auf. »Dann fahren wir hin«, entschied er und erkannte mit einem Schlag die gesamte Brisanz: Er war als Journalist in einen Kriminalfall verwickelt. Als Zeuge und Berichterstatter. Während er in den sonnigen Wintergarten hinabging, um das Geschirr des unterbrochenen Frühstücks wegzuräumen, wurde ihm noch mehr bewusst. Er war keinesfalls nur Zeuge und Berichterstatter, sondern womöglich auch Verdächtiger. Doch dies wollte er Doris nicht sagen.
5.
Häberle hatte den Notfallseelsorger und Specki zu Heidenreichs Freundin geschickt. Seit es Theologen gab, die sich um die Angehörigen von Opfern kümmerten, war vielen Polizeibeamten eine große Last genommen. Nichts empfand Häberle auch heute noch unangenehmer als die Überbringung einer Todesnachricht.
Nachdem Maggy, die Kripochefin, entschieden hatte, eine Sonderkommission einzurichten, wurden dazu in aller Eile im Lehrsaal der Göppinger Polizeidirektion die technischen Voraussetzungen geschaffen. Gleichzeitig versuchte Häberle bereits mehrfach, seinen jungen Kollegen Mike Linkohr zu erreichen, der sich schon bei vielen großen Fällen als wertvolle Stütze und Hilfe erwiesen hatte. Doch dieser meldete sich weder auf dem Festnetzanschluss noch auf dem Handy. Kein Anrufbeantworter, keine Mailbox. Häberle überlegte kurz, was dies bedeuten könnte. Vermutlich war Linkohr mal wieder Hals über Kopf in eine Frau verknallt und wollte an seinem freien Wochenende nicht gestört werden.
Während deshalb Specki zu Heidenreichs Freundin fuhr, um etwas über die letzten Stunden zu erfahren, die sie mit dem Opfer verbracht hatte, zog sich Häberle mit dem Wirt des Wasserberghauses in einen kleinen Raum des kühlen Anbaus zurück. Auf dem kurzen Weg über die terrassenartige Freifläche waren sie an Ausflüglern vorbeigekommen, die vor einem Fenster Schlange standen, durch das Getränke und Speisen verkauft wurden. Die Gespräche, so konnte er den Wortfetzen entnehmen, drehten sich um den Großeinsatz der Polizei.
Der Wirt, ein kräftiger, weiß geschürzter Mann, dem der Schweiß auf der Stirn stand, ließ sich auf einer Eckbank nieder und bot Häberle den Platz auf einem gepolsterten Stuhl an. »Ich hab Ihren Kollegen doch schon alles gesagt«, gab er sich ungeduldig. An einem Sonntag wie heute hatte er in der Küche jede Menge zu tun. Das Wasserberghaus war beliebtes Ziel der Wanderer und Ausflügler aus der näheren und weiteren Umgebung. Insbesondere die Stuttgarter schätzten diese Hüttenstimmung abseits der hektischen Hauptverkehrswege.
»Tut mir leid, wenn ich Sie auch noch stören muss«, zeigte Häberle Verständnis und verschränkte die Arme. Auf der verschrammten Tischplatte vor ihm lagen einige alte Zeitungen. »Aber ich möchte mir ein Bild davon verschaffen, was sich vergangene Nacht hier oben abgespielt hat.«
Über das braun gebrannte Gesicht des Wirts huschte ein Lächeln. »Die Hölle war los, kann ich Ihnen sagen. In so einer Nacht wird hier überall gefeiert. Das Haus war bis zum frühen Morgen gerammelt voll – und draußen an den Feuerstellen ging ebenfalls einiges ab.«
»Das sind aber Gruppen, mit denen Sie nichts zu tun haben?«
»So gut wie nichts. Einige holen ihre Getränke bei mir. Oder ich leih ihnen eine Biertischgarnitur aus.«
Häberle nickte. »Sie haben meinem Kollegen bereits gesagt, dass drüben an der großen Feuerstelle auf der Lichtung ein Klassentreffen stattgefunden hat …«
»Klassentreffen«, unterbrach ihn der Wirt, »da dürfen Sie sich keine Schüler oder Jugendlichen vorstellen. Das sind alles Herrschaften im gesetzten Alter, die hier jedes Jahr zusammenkommen. Im Übrigen hab ich Ihren Kollegen schon drauf hingewiesen, dass bei denen dieser Zeitungsmensch mit dabei war.«
»Sander, ja, ich weiß«, erwiderte der Kriminalist. »Der wird uns sicher weiterhelfen, was die Namen anbelangt.« Häberle sah in Gedanken versunken aus dem Fenster, von dem dicht belaubte Buchenzweige das Sonnenlicht abhielten. »Den Toten kennen Sie
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