Glasklar
Bayreuter spürte das Blut aus allen Teilen seines Körpers entweichen. Er zog einen Sessel heran und ließ sich langsam nieder. »Werner Heidenreich?«, fragte er ungläubig zurück.
»Ja, mich hat die Kripo angerufen. Gerade eben«, erklärte Gustav. »Sie haben ihn in meinem Waldstück gefunden – erstochen, beim ›Mammut‹.«
Bayreuter, der als Leiter einer Berufsschule tagtäglich mit den unterschiedlichsten Problemen zu kämpfen hatte, war bemüht, seine aufkommende innere Unruhe einzudämmen. »Du sagst, erstochen.« Seine Kehle wurde trocken. »Weiß man denn, von wem?«
»Ich glaub nicht. Jedenfalls haben sie am Telefon nichts gesagt.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Ich fahr jetzt mal rauf. Kommst du mit?«
Bayreuter überlegte und entschied: »Okay. Treffen wir uns am Hexensattel. In einer Viertelstunde.«
Sie beendeten das Gespräch, und Bayreuter legte das Gerät auf den Schrank zurück, während Angelika, seine Ehefrau, aus einem der Zimmer kam. »Ist was passiert?«, forschte sie , nachdem sie offenbar einen Teil des Telefonats mitbekommen hatte und nun in das bleich gewordene Gesicht ihres Mannes sah.
»Werner wurde erstochen«, erklärte Bayreuter knapp.
»Nein!«, entfuhr es Angelika, die ihren hünenhaften Mann selten so verstört gesehen hatte. Er nahm sie in die Arme und suchte nach tröstenden Worten. Als gläubigem Menschen und Laienprediger, der er war, fiel ihm dies nicht schwer. Sie standen eng umschlungen in der Diele und hielten sich fest. »Kommst du mit rauf?«, fragte er schließlich, doch Angelika zog es vor, sich den Stress mit der Kriminalpolizei vorläufig nicht anzutun.
Bayreuter gab ihr einen Kuss auf die Wange, setzte seinen breitkrempigen Hut auf, der ihn in Kombination mit seinem braun karierten Hemd und der olivgrünen Outdoorhose in einen Ranger verwandelte. »Ich ruf dich an«, versprach er und verschwand in Richtung Kellertreppe. Dort blieb er abrupt stehen. »Ach ja«, sagte er mit nachdenklicher Miene. »Ich hab den Korb mit dem Besteck rausgestellt. Hast du eine Ahnung, wo unser Küchenmesser geblieben ist?«
Plötzlich wurde ihm die ganze Tragweite der Frage bewusst.
Angelika näherte sich zögernd dem Treppenabgang. Sie sah ihn entsetzt an.
6.
Sabine Braunstein saß so abwesend auf ihrem Stuhl, als liefe ihr ganzes bisheriges Leben wie ein Film an ihr vorbei. Sie hatte kreidebleich zur Kenntnis genommen, was ihr der Notfallseelsorger und Specki so schonend wie möglich beizubringen versuchten. Werner war tot. Eine Welt zusammengebrochen. Wieder einmal. Sie starrte aus dem Fenster, hinüber zu den grünen Wäldern, die nur ein paar Kilometer entfernt die Hänge der Alb bedeckten.
Specki räusperte sich und sah zu dem Geistlichen, der für Situationen wie diese geschult war. Er ergriff das Wort: »Frau Braunstein, endgültige Gewissheit haben wir natürlich erst, wenn Sie ihn …«, er überlegte, »wenn Sie ihn identifiziert haben.« Keine Reaktion. Nur der starre Blick aus dem Fenster. Der Theologe ließ eine halbe Minute verstreichen, um dann ruhig seine Bitte vorzubringen: »Wir wissen, wie schwer es Ihnen fällt, aber Herr Speckinger von der Kriminalpolizei tut nur seine Arbeit, wenn er Ihnen jetzt ein paar Fragen stellt.«
Sabine Braunstein blieb weiterhin regungslos sitzen, die Hände an die Armlehnen geklammert, sodass die Knöchel weiß schimmerten.
Specki versuchte, ihr Vertrauen zu gewinnen, und ergänzte mit gedämpfter Stimme: »Je frühzeitiger wir ansetzen können, desto größer sind unsere Chancen, den Täter zu finden.«
Die Frau atmete tief ein. »Den Täter«, wiederholte sie schwach. »Den Täter, ja.« Noch immer war ihr Blick in die Ferne gerichtet. Ganz links, so vermutete Specki, hob sich der Höhenrücken des Wasserbergs aus der Albkette hervor. Dort war es geschehen.
Der Notfallseelsorger, ein Mann um die 40 und katholischer Pfarrer in einer umliegenden Gemeinde, sah die Frau von der Seite an und versuchte, sich in ihre Lage zu versetzen. Doch er wusste viel zu wenig von ihr – im Prinzip gar nichts –, als dass er auf ihre persönliche Situation hätte eingehen können. Entweder war der Getötete ihr Freund oder ihr langjähriger Lebenspartner – oder sie beide verband ein geheim gehaltenes Liebesverhältnis. Seit er sich um die Hinterbliebenen von Unfall- oder Verbrechensopfern kümmerte, hatte er bereits nahezu die ganze Palette menschlicher Tragödien erlebt. Einmal war er sogar zu einer Ehefrau gerufen
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