Glasklar
und blickte sich um. Ein halbes Dutzend Kollegen schaute in die Bildschirme, zwei andere diskutierten am offenen Fenster miteinander. Nur Linkohr war nicht da. »Weiß eigentlich jemand, wo Kollege Linkohr ist?«
Einer der beiden, die am Fenster standen, gab die Antwort: »Er ist auf Recherche.« Am Tonfall bemerkte Häberle, dass dies nicht ernst gemeint war. »Er will den jungen Mann treffen, dem er am Samstag sein Auto ausgeliehen hat.«
»Wohl doch eher dessen Schwester, nehm ich an«, stellte Häberle süffisant fest.
Sander wusste nicht so recht, wie er die Lage einzuschätzen hatte. Einerseits war er froh, endlich mit den beiden Kollegen über die Dokumente gesprochen zu haben – andererseits aber befriedigte es ihn als Journalist überhaupt nicht, sie vorläufig nicht zu verwerten. Er kam mit Kauz und Rahn überein, dass er im Artikel für die morgige Ausgabe durchaus zwischen den Zeilen spekulieren konnte, welche Hintergründe denkbar wären. Allerdings sollten die Begriffe ›Terror‹ oder ›Terrorismus‹ nicht erwähnt werden. Dafür war es durchaus legitim, über die Vergangenheit des Mordopfers zu mutmaßen, wenngleich Sander wusste, wie sensibel dieses Thema war. Schon einmal hatten ihn Angehörige eines Mordopfers vor den Kadi zerren und ihm ›Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener‹ ankreiden wollen. Damals hatte er einige seltsame Punkte im Leben eines Erschossenen herausgefunden, die möglicherweise in einem Zusammenhang mit der ungeklärten Tat hätten stehen können. Nicht nur in seinem Artikel war dies zum Ausdruck gekommen, sondern sogar in der Fernseh-Fahndungssendung ›Aktenzeichen XY … ungelöst‹. Die Staatsanwaltschaft hatte das Verfahren dann eingestellt.
Jetzt musste er an diesen Fall denken, während er über Heidenreich schrieb. Deshalb war er viel zu unkonzentriert, löschte den Einstieg in den Artikel bereits zum vierten Male und wurde sich bewusst, dass er selten etwas über ein Verbrechen geschrieben hatte, zu dem es am dritten Tag danach so wenig zu sagen gab. Häberle hatte sich am Telefon verleugnen lassen, und bei der Staatsanwaltschaft war er über die überaus freundliche Sekretärin von Ziegler nicht hinausgekommen. Alle hielten sie ihn inzwischen für befangen – und wenn dies noch einige Tage so weiterginge, würde er tatsächlich einen anderen Kollegen hinzuziehen müssen. Morgen Vormittag jedoch, das nahm er sich vor, würde er mit den Akten zu Häberle gehen und damit gewiss wieder für besseres Klima sorgen. Ein anderer Gedanke spukte ihm durch den Kopf: Was aber, wenn ihm Ziegler zuvorkam und Richter Schwenger irgendeine Anordnung erließ, mithilfe derer man ihn zur Herausgabe der Akten zwingen würde? Durchsuchung der Redaktionsräume – oder seines Hauses? Dass vermutlich seine Telefone abgehört und die Verbindungsdaten gespeichert wurden, damit hatte er sich abgefunden. Gewisse Zweifel hatte er aber, ob es die Juristen wagen würden, auch die Telefone des Verlages anzuzapfen.
Noch während er versuchte, diese Gedanken abzuwehren, um endlich eine Einleitung für den Artikel zu finden, schreckte ihn das Telefon auf. Er meldete sich verärgert und gereizt.
»Georg, bist du das?«, hörte er eine Frauenstimme.
»Ja – wer ist da?«, gab er unwirsch zurück. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte ihn der Anruf einer Frau gefreut, nicht aber jetzt, wo er noch in den Abendstunden einen komplizierten Artikel schreiben musste – vor allem aber einen, der gewiss von nahezu allen Abonnenten gelesen werden würde.
»Ich bin es, die Heide – Heidelinde.«
Sander musste einen Augenblick überlegen. Er hatte in den vergangenen Tagen so viele Namen und Daten gehört, dass er kurz stutzte. Heide, ja – endlich fiel ihm ein, mit wem er es zu tun hatte. Natürlich. Heidelinde König, die Klassenkameradin, die sich so viel Mühe mit den Liederbüchern gegeben hatte.
»Hallo, Heide!«, kam es ihm knapp über die Lippen.
»Hast du kurz Zeit?«
»Um ehrlich zu sein – ich bin ziemlich beschäftigt.« Er sah zur Uhr am Alten Rathausturm, die zehn vor acht zeigte. Die Zeit wurde knapp.
»Ich mach es kurz«, kam es leicht enttäuscht zurück. »Aber wir sollten dringend miteinander reden. Nicht am Telefon. Könnten wir uns heute noch treffen?«
Sanders Interesse war mit einem Schlag wieder geweckt. Heidelindes Stimme klang nervös und unsicher.
»Heute noch?«, wiederholte er ungläubig.
»Ja, es ist wirklich wichtig. Auch für dich.«
»Okay.
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