Glasklar
Aber es kann 22 Uhr werden. Wo?«
»Bei mir, wenn’s dir nichts ausmacht.«
»Okay.«
Sander verabschiedete sich und legte auf. Jetzt war es noch schwieriger, einen Anfang für den Artikel zu finden. Was hatte Heidelinde auf dem Herzen?
47.
Linkohr war unsicher gewesen. Und auch jetzt, als er mit Mariella und ihrem Bruder Gunnar den steilen Weg zum Wasserberghaus hinaufging, nagten noch Zweifel an ihm, ob sein Verhalten richtig war. Zwar stand ihm selbst als Mitglied einer Sonderkommission ein Feierabend zu – aber darauf hatte er bei früheren Fällen nie großen Wert gelegt. Jetzt war alles anders. Er hatte dem Drängen Mariellas nicht widerstehen können. Und außerdem, so sagte ihm eine innere Stimme, war ihr Bruder immerhin zumindest am Rande in den Fall verwickelt. Als er den Kollegen mitgeteilt hatte, er müsse mit ihm noch ein paar Fragen klären, war das nicht einmal gelogen gewesen. Auch wenn sein Hauptinteresse natürlich dieser jungen Frau galt, die mit ihrer kurzen Jeanshose einen halben Schritt vor ihm herging. Gunnar, der knielange bunte Bermudashorts trug, hatte offenbar Mühe, ihr Tempo zu halten. Er blieb bereits zwei Meter zurück und atmete schwer. Die Sonne blitzte im flachen Winkel von links durch das Blätterdach.
Linkohr überlegte, weshalb Mariella ausgerechnet das Wasserberghaus als Treffpunkt für ein ausführliches Gespräch vorgeschlagen hatte. Genauso gut hätten sie sich drunten im Tal in einer Dorfgaststätte verabreden können. Aber vermutlich wollte sie den Ort des Geschehens sehen, von dem Linkohr am Telefon in den vergangenen Tagen so viel erzählt hatte. Außerdem würde es nach den Gewittern und Schauern einen lauen Abend geben. Er musste sich allerdings eingestehen, dass er viel lieber mit ihr allein hier hinaufgegangen wäre. Wieder wurden Erinnerungen an den gestrigen Nachmittag wach, als sie im Unterholz wie Teenager alle Hemmungen über Bord geworfen hatten.
»Du hast von dem Mammutbaum erzählt«, begann sie plötzlich, als der zum Bergpfad gewordene Weg über Erdstufen führte. Mariella blieb stehen, drehte sich zu ihm um und erinnerte ihn dabei mit ihren langen Beinen an ein Model. Er strahlte sie an, während Gunnar wieder aufholen konnte.
»Wir sind gleich beim ›Mammut‹«, informierte Linkohr.
Mariella strich ihm übers Haar und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Was sind das eigentlich für Menschen, die diesen Baum gepflanzt haben?«
»Ganz normale Mitbürger«, antwortete Linkohr, der hinter sich den schweren Atem von Gunnar hörte. »Keinem einzigen würd’ ich zutrauen, dass er einen ehemaligen Klassenkameraden ersticht.«
»Und doch ist es passiert. Du hast auch erzählt, dass das Tatmesser von dieser Gesellschaft stammt.«
Ein älteres Ehepaar kam ihnen entgegen, grüßte freundlich und wich auf dem Treppenweg zum Abgrund hin aus.
»Ja, natürlich«, knüpfte Linkohr an Mariellas Einwand an. »Aber es war dunkel und ziemlich viel los. Du wirst sehen: Da oben gibt es viele Wege, Lichtungen und Feuerstellen. In einer Nacht wie am Samstag herrscht dort ein Kommen und Gehen, vor allem, wenn auch im Wasserberghaus noch was geboten wird und die ›Wilden Gesellen‹ singen. Dieses Klassentreffen hat an einer Feuerstelle stattgefunden, an der auf zwei Seiten ein Pfad vorbeiführt. Ich kann’s dir ja gleich zeigen.«
Sie erreichten die Hochfläche, wo der Pfad in einen verwucherten Forstweg einmündete. »Dort steht er«, sagte Linkohr und deutete nach vorne auf eine grasbewachsene Lichtung, in deren Mitte der Drahtgitterkäfig mit dem Mammutbäumchen stand, das knapp über den Rand der Umzäunung hinausragte.
»Der ist aber putzig«, meinte Mariella und beschleunigte ihren Schritt. Der Abstand zu Gunnar betrug schon wieder fünf Meter.
Linkohr hatte Mühe, der jungen Frau auf den Fersen zu bleiben. Ihr schien es der etwa 1,60 Meter große Baum angetan zu haben. »Und hier ist das also passiert?«
»Ja, genau hier«, bestätigte Linkohr und blieb neben ihr vor dem Drahtgitter stehen.
Mariella strich dem Bäumchen über die verkrüppelte Krone, die sich neu gebildet hatte, nachdem die Spitze voriges Jahr abgebrochen worden war. Dann las sie die Gravur auf der Metallplatte, die zu ihren Füßen von einem Kalkstein gehalten wurde. »Schöner Spruch«, befand sie, während ihn ihr Bruder ebenfalls las und eifrig nickte.
»Du hast erzählt, einigen Umweltschützern sei dieser exotische Baum ein Dorn im Auge gewesen«, überlegte Mariella.
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