Glasklar
Füßen auf der dritten Sprosse zum Stehen.
»Festhalten und runterkommen.« Er beobachtete sie aus der Distanz von etwa zehn Sprossen.
Ihre Knie waren weich, ihr Herz pochte. Der Atem ging so schnell, dass sie befürchtete, nicht genügend Luft zu kriegen. Sie würde nie wieder hier herauskommen. Dazu war sie viel zu schwach.
»Schön langsam.«
Sie wagte nicht, in diese entsetzliche Tiefe zu sehen. Der Raum, der sie umgab, wirkte auf sie wie ein enger Turm, in den sie hinabklettern musste. Die Wände waren glatt und windschief, glänzten lehmig-gelb und wiesen an vielen Stellen Spalten und Klüfte auf, in denen kleine Halogenscheinwerfer abwärtsstrahlten.
Der Mann stieg ein paar Sprossen tiefer, ohne die Frau über ihm aus den Augen zu lassen. Sie wirkte unsicher und ängstlich, wie sie einen Fuß zum anderen setzte, auf der jeweiligen Sprosse verharrte und dann vorsichtig nach der nächst tieferen tastete.
»Na also, das klappt doch!«, ermunterte sie der Mann. Unterdessen überlegte er bereits, wie er ihr die Angst vor dem nächsten Abschnitt nehmen könnte. Denn hier auf diesem Gitterrost-Plateau, das ins trichterförmig zulaufende untere Ende des Turmes eingepasst worden war, endete das elektrische Licht. Von hier aus führte nur ein enger Spalt in die ewige Finsternis hinein. Jetzt brauchten sie ihre Stirnlampen.
Während die Frau einen Schritt nach dem anderen abwärts tat, ließ der Mann seine Augen an der Felswand entlanggleiten. Hier gab es keinen Schalter, mit dem man das elektrische Licht hätte löschen können. Das, so überlegte er, wäre auch unsinnig gewesen. Denn wer hier unten war, würde vermutlich das Licht nicht ausmachen wollen. Doch wenn es nun brannte und sie oben einen Verdacht schöpften, gingen sie bestimmt davon aus, dass jemand unten sein musste. Darauf würde auch der nicht abgeschlossene Gitterrost hindeuten.
Das alles hatte er aber bei seinem Plan bedacht. Er war Einzelkämpfer genug, um auf alles gefasst zu sein. Und diese Frau hatte ohnehin keine Chance mehr.
51.
Die Männer waren übermüdet. Doch keiner von der Sonderkommission wollte in dieser Nacht nach Hause. Sie alle hatten das Gefühl, der Klärung des Falles so nah wie nie zuvor in den vergangenen Tagen zu sein. Häberle bat den Kollegen Speckinger, noch einmal den Optiker anzurufen – auch wenn es jetzt mitten in der Nacht war. Immerhin hatte der Mann versprochen, sich noch im Laufe des Abends zu melden.
»Diese Katrin Fellhauer«, erklärte Linkohr, »ist nicht daheim. Weil ihr Telefon nicht abgenommen wird, haben wir eine Streife hingeschickt.«
»Und das Auto – dieser alte Ford Escort?«, hakte Häberle nach, der sich mit einer Tasse starken Kaffee aufputschte.
»Steht zumindest nicht bei ihr zu Hause. Ein leerer Carport ist den Kollegen vom Streifendienst aufgefallen – mehr nicht.«
Eine Stimme von der offenen Tür her unterbrach die Konversation: »Entschuldigen Sie, Herr Häberle.« Es war ein junger Uniformierter, auf den sich sogleich die Blicke der zehn Sonderkommissionsmitglieder richteten. »An der Wache hat sich ein Journalist gemeldet. Sander heißt er. Er hat vorhin schon angerufen und gefragt, ob Sie noch da seien.«
»Und – was will er?«, fragte Häberle gereizt. »Jetzt um Mitternacht?«
»Keine Ahnung«, zuckte der Uniformierte mit den Schultern. »Er hat gesagt, es sei ganz wichtig und Sie würden ihn kennen.«
»Schicken Sie ihn her«, entschied Häberle und blickte in die Runde. Doch mehr als ratlose und skeptische Gesichter sah er nicht. »Wenn uns der nur interviewen will, schmeiß ich ihn hochkant raus.«
Zwei Minuten später tauchte ein blasses Gesicht mit zerzausten Haaren an der Tür auf. Häberle tat zunächst so, als habe er Sander gar nicht bemerkt. Er wollte es ihn spüren lassen, dass die Ereignisse der vergangenen Stunden das Vertrauensverhältnis nachhaltig gestört hatten.
Der Journalist spürte die Reserviertheit, die ihm von allen im Raum entgegenschlug. »Ich hätt’ gern mit Herrn Häberle gesprochen«, sagte er, als ihn einer nicht näher treten ließ. »Dort!«, zeigte ein Beamter auf den Chefermittler. Sander ging auf ihn zu und war verunsichert, als Häberle nicht sofort, wie es in Zeiten vor diesem Fall üblich gewesen war, aufsprang und ihn begrüßte.
»Falls Sie nur fragen wollen, was es Neues gibt, muss ich Sie an die Staatsanwaltschaft in Ulm verweisen«, erklärte Häberle amtlich und vertiefte sich wieder in einen Text auf dem
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