Glasklar
Beobachtungen gemacht haben – sei es, dass sie jemanden gesehen haben, der durch sein merkwürdiges Verhalten aufgefallen ist, oder sei es, dass Fahrzeuge oder andere Dinge gesichtet wurden.«
Während die Kollegen noch überlegten, meldete sich Sander erneut zu Wort: »Die Tat wurde wohl an diesem Mammutbaum verübt …« Er suchte nach passenden Formulierungen, aus denen niemand schließen sollte, dass er möglicherweise interne Informationen erhalten hatte. »Der Tote lag aber schätzungsweise zehn Meter davon entfernt im Gebüsch. Demnach muss ihn der Täter dorthin geschleppt haben. Wie man weiß, war Herr Heidenreich nicht gerade ein Leichtgewicht. Lässt dies auf einen kräftigen Mörder schließen?«
Manuela Maller sah zu dem Staatsanwalt hinüber, der sofort antwortete: »Nein, nicht unbedingt. Wir alle haben in der Fahrschule den sogenannten Bergegriff geübt.« Er blickte in die Runde. »Ich weiß nicht, ob Sie sich noch entsinnen – manche vom jugendlichen Alter her vermutlich schon noch –, aber wenn Sie einem Bewusstlosen von hinten unter den Schultern durchgreifen und ihn an seinem angewinkelten linken Unterarm fassen, können Sie so gut wie jede Person wegschleppen.«
Sander stimmte zu. Obwohl die Zeit seiner Führerscheinprüfung schon fast 40 Jahre zurücklag, konnte er sich noch lebhaft an diese Übungen entsinnen. Er wechselte deshalb das Thema: »Gibt es denn wirklich keinerlei Hinweise auf den Täter? Ich gehe mal davon aus, dass die Spurensicherung jeden Quadratzentimeter untersucht hat.«
Stock blickte dem Lokaljournalisten ins Gesicht. Sander war klar, was dies bedeutete: Bitte jetzt keine weiteren Bemerkungen.
Ziegler ließ auch keinerlei Zweifel aufkommen: »Nein, nichts, Herr Sander. Überhaupt nichts.«
Sander gab sich damit zufrieden. Jede weitere Frage hätte ohnehin nur die Kollegen hellhörig gemacht. Überhaupt würde er noch überlegen müssen, inwieweit er seine Informationen verwerten sollte. Schließlich steckte er selbst mit drin, was die anderen Medienvertreter bislang nicht wussten.
Ziegler schien seine Gedanken erraten zu haben: »Im Übrigen«, so meinte er, »stellt sich die Frage, ob zum jetzigen Zeitpunkt alles veröffentlicht werden muss, was man heute recherchieren konnte. Manchmal«, er blickte zu Sander, »manchmal ist es für alle Beteiligten besser, sich vornehm zurückzuhalten.« Der Lokaljournalist spürte plötzlich, wie sich sein Puls beschleunigte. Wollte ihm der Oberstaatsanwalt drohen? Was wusste Ziegler von ihm – und vor allem: Wie schätzte er dies ein?
18.
Reinhard Meinländer war ein Mann mit schneller Auffassungsgabe. 70 Jahre alt, aber sportlich und agil, sodass man ihn deutlich jünger einschätzte. Friedrich Speckinger hatte das wahre Alter Meinländers gleich zu Beginn des Gesprächs erfahren, denn der pensionierte Realschullehrer war auskunftsbereit und berichtete, dass er seine allererste Klasse regelmäßig besuche und er sogar erst kürzlich zur Nachfeier seines 70. Geburtstags in den ›Hirsch‹ nach Gosbach eingeladen habe. Specki kannte dieses Restaurant, das mit seiner schwäbischen Küche und den heimischen Produkten einen guten Ruf genoss.
»Ich hab mir schon gedacht, dass Sie kommen«, gab sich der Pensionist aufgeschlossen. »Da gerät man plötzlich in eine Sache rein, mit der man gar nichts zu tun hat.« Sein Hochdeutsch war astrein. Vermutlich hatte er Deutsch gelehrt, dachte Speckinger und besah sich die Aquarien, in denen allerlei exotische Fische schwammen. Die Ruhe und Ausgeglichenheit, die sie durch die dicken Glasscheiben ausstrahlten, schienen auch auf ihren Besitzer übergegriffen zu haben.
»Uns geht es nur darum, ob Ihnen im Laufe des Abends etwas aufgefallen ist«, kam der Kriminalist gleich zur Sache. »Aber wie wir erfahren haben, sind Sie relativ bald weggegangen.«
»Man wird halt älter«, grinste Meinländer. Der spitzbübische Gesichtsausdruck verriet Speckinger, dass sich der Mann bei Weitem nicht so alt fühlte, wie er war. »Aber man ist ja beruhigt, wenn man feststellt, dass auch die Klasse nicht jünger wird.«
»Sie halten nach wie vor Kontakt zu Ihren Ehemaligen?« Der Kriminalist überlegte, weshalb Meinländer der Frage nach seinem Weggang vom Lagerfeuer ausgewichen war.
»Ja, so kann man das sagen. Der Kontakt ist nie abgebrochen – und das ist besonders schön, weil sie die allererste Klasse war, die mir als Klassenlehrer anvertraut wurde.«
Speckinger wurde für einen Moment an
Weitere Kostenlose Bücher