Glasklar
seine eigene Schulzeit erinnert. Eigentlich gab es da keinen einzigen Lehrer, den er später gerne wiedergesehen hätte. Welchen Eindruck musste dieser Meinländer auf seine Schüler gemacht haben, dass sie ihn nach so langer Zeit sogar noch ans Lagerfeuer einluden? Überschlägig rechnete der Kriminalist zurück: Wenn Meinländer jetzt 70 war, dann betrug der Abstand zu seinen damaligen Schülern nur 13 oder 14 Jahre. Damit war er 26 oder 27 Jahre alt gewesen, als er ihr Klassenlehrer wurde. Speckinger fühlte sich in seine Kindheit zurückversetzt und musste sich eingestehen, dass damals solche Zeitspannen riesengroß und ihm die knapp 30-Jährigen steinalt erschienen waren. Je älter man wurde, desto mehr verschoben sich die zeitlichen Dimensionen. Irgendwann, als er selbst noch keine 30 war, hatte ihm mal ein 55-Jähriger väterlich gesagt, dass die Zeit ab 50 rasend schnell vergehe. Inzwischen hatte er es selbst verspürt. Die Wochen flogen dahin, die Monate ebenso. Manchmal hatte Speckinger das Gefühl, auf irgendeine Zeitbremse treten zu müssen. Je mehr ihm dies bewusst wurde, umso mehr versuchte er, die Tage zu genießen, die Natur, den Ablauf der Jahreszeiten. Mein Gott, wie hatte er sich als Kind auf die großen Sommerferien gefreut, die nur quälend langsam heranrückten. Heute freute er sich zwar auch auf den Urlaub, musste jedoch andererseits mit Erschrecken feststellen, wie schnell dieser dann doch näher kam – und damit wieder eine Zeitspanne verstrichen war, die früher ewig lang erschien.
Speckinger verdrängte diese Gedanken und fragte Meinländer noch einmal, wann er denn das Lagerfeuer verlassen habe.
»Wir haben noch gesungen«, erwiderte der Pädagoge ruhig. »Gesungen und uns über Gott und die Welt unterhalten. Und wie sich die Schule verändert hat. Immerhin sind einige aus dieser Klasse auch in den Lehrberuf gegangen.«
Dem Kriminalist war unerträglich heiß. »Und wann sind Sie dann weggegangen?«, wiederholte er geduldig.
»Es muss wohl so um Mitternacht gewesen sein. Die meisten waren noch da. Die Angelika hat Gitarre gespielt und die Heidelinde auf die jeweiligen Seiten in ihrem Liederbuch hingewiesen. Sie kennen die beiden vermutlich, oder?«
Speckinger erwiderte nichts, sondern behielt einen besonders farbenprächtigen Fisch im Aquarium hinter Meinländer im Auge und bemerkte dann: »Es dürften um diese Zeit noch um die 15 oder 20 Personen da gewesen sein, wenn ich dies richtig einschätze?«
»So etwa, ja. Manche sind zwischendurch auch ins Albvereinshaus rüber – zu den ›Wilden Gesellen‹, die Sie wahrscheinlich kennen. Es war ein reges Kommen und Gehen.«
»Ich geh mal davon aus, dass Sie manche Ihrer Ehemaligen besser und andere weniger gut kennen.«
»Natürlich ist das so. Einige haben den Kontakt gesucht, andere eher weniger.« Er lächelte. »Aber wenn Sie da Genaueres wissen wollen, fragen Sie doch den Sander – den Zeitungsmann.«
»Mich würde interessieren, wie Sie den Werner Heidenreich erlebt haben.«
»Damals oder jetzt?«
»Sowohl als auch.«
»Er war ein mittelmäßiger Schüler, würde ich mal sagen. Mittelmäßig, ja. Schwer zugänglich, aber sicher einer der aufgeschlossensten.« Meinländer rückte näher an den Esszimmertisch heran und grinste. »Aber im Vergleich zu den heutigen Schülern natürlich brav.«
»Das heißt, er war das, was man heute unter ›cool‹ verstehen würde?«
»Cool oder nicht cool – das kommt auf die Definition an. Jedenfalls war Werner immer ganz vorne mit dabei, wenn was ausgeheckt wurde.«
»Sein Berufsziel war, zur Polizei zu gehen?«
»Ich glaube, ja. Nachdem er wohl zunächst Geheimagent werden wollte. Aber«, Meinländer zog wieder sein spitzbübisches Gesicht, »das sind die üblichen Kindheitsträume. Der Alfred Pettrich, den Sie sicher auch kennen, wollte immer Astronaut werden – und Georg Sander Krimiautor, aber zu mehr als einem Journalisten in der Provinz hat’s auch nicht gereicht.«
»Sie haben Herrn Heidenreich letztes Jahr auch erst nach langer Zeit wiedergesehen?«
»Ja, er ist plötzlich wieder aufgetaucht. Kein Mensch hatte mit ihm gerechnet.«
»Was war der Grund? Hat er sich dazu geäußert?«
»Nur, dass er wieder den Kontakt sucht. Aber eigentlich – das war jedenfalls mein Eindruck – ging es ihm um seine Bürgerinitiative gegen die Bahn. Mir schien es so, als suche er Mitstreiter.«
»Könnte es sein, dass er sich für jemanden aus der Gruppe besonders interessiert
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