Glasklar
sah seinen Schulfreund mit großen Augen an. »Wie sollen wir in eine Sache verwickelt werden, mit der wir nichts zu tun haben?«, fragte er verwundert nach. »Wir haben ausgesagt, was Sache ist – und damit fertig. Alles andere ist mir piepegal. Ich will jeglichen Heckmeck vermeiden.«
Hilscher kannte diese Worte. Immer, wenn Erich auf Distanz ging, sprach er so. Brigitte konnte jedoch Hilschers Anliegen genauso wenig einordnen: »Hast du denn Angst, dass etwas an uns hängen bleibt?«
»Nein, überhaupt nicht. Absolut nicht. Aber ich könnte mir vorstellen, dass meine Kollegen von der Kripo auch jeden Einzelnen von uns unter die Lupe nehmen, falls sie keine Anhaltspunkte in anderer Richtung finden.«
»Na klar«, unterbrach ihn Erich Neusser, »ist doch ihr Job, oder? Ich hab nichts zu verbergen – und Brigitte auch nicht.«
»Davon geh ich aus.« Hilscher suchte nach passenden Formulierungen. »Aber es müssen ja nicht unbedingt Dinge sein, die aus jüngster Zeit stammen«, gab er zu bedenken. »Manches entwickelt sich erst so nach und nach.«
»Du willst damit aber nicht sagen, dass alte Animositäten zum Ausbruch gekommen sind? Ein Schulhofstreit, der nach 40 Jahren mit einem Mord geendet hat?«
»Das sicher nicht. Aber es gibt tausend Möglichkeiten: Eifersucht vielleicht …«
»Aber doch nicht nach all den Jahren«, unterbrach ihn Brigitte energisch.
Joachim Hilscher umklammerte die Vorderseiten der Armlehnen. »Ich stell das nur mal so in den Raum. Jeder von uns – und davon bin ich überzeugt – könnte sicher seine eigene Story über Werner erzählen. Aber das könnten andere wiederum auch über uns.«
»Jeder hat die Schulzeit anders erlebt«, meinte Erich Neusser gelassen. »Und deshalb hat auch jeder seine ganz spezielle Erinnerung an den anderen. Das ist doch ganz normal. Mein Gott, was stürmt alles so auf einen jungen Menschen in der Pubertät ein! Sind wir doch mal ehrlich: Vieles, was wir damals getan und gutgeheißen haben, sehen wir heute ganz anders. Viel schlimmer ist, wie heutzutage diese kritische Zeit der Kinder und Jugendlichen genutzt wird, um sie für allerlei Schwachsinn zu begeistern, vor allem aber, um sie zu Sklaven der Marktwirtschaft zu machen.«
Hilscher grinste. »Da sind wir wohl noch mit einem blauen Auge davongekommen – ganz ohne Computer, MP3-Player und den Markenklamotten, mit denen auf den Schulhöfen geprotzt wird.«
»Wir waren Waisenknaben dagegen, Joachim«, konstatierte Neusser und wiederholte: »Waisenknaben. Die Flut, die heute auf die Kinder einstürzt, ist katastrophal. Fernseher, Internet, Handys, Chatrooms, SMS – glaubst du im Ernst, irgendwelche Eltern oder Lehrer könnten das überblicken?«
Seine Frau ergänzte: »Und die Gewalt-Videos und - DVD s. Unsere Eltern hatten noch einen Überblick darüber, welche Bücher und Zeitschriften wir gelesen haben. Heutzutage passen doch jede Menge Filme auf winzige Speichersticks drauf.«
»Oder die Filme werden per Handy-Video verschickt«, ergänzte Hilscher, der in seiner Eigenschaft als Polizeibeamter bei einem örtlichen Polizeiposten auch mit all diesen Techniken vertraut war.
»Um wieder auf Werner zurückzukommen«, erklärte Neusser, »der hatte wohl die interessanteste und spannendste Berufslaufbahn von uns allen.«
»Zumindest, was man so hört«, meinte Hilscher. »Was an den Gerüchten dran ist, die heut so kursieren, wird sich zeigen. Zumindest dass er bei der Steuerfahndung war, ist unstrittig.«
»Aber all das zuvor«, warf Brigitte ein, »das soll doch ziemlich verworren gewesen sein.«
»Und sein Lebensstandard soll nicht gerade dem eines normalen Polizisten entsprochen haben«, konstatierte Neusser fest. Als Betriebsprüfer hatte er sich im Laufe seines Berufslebens einen geübten Blick dafür angeeignet. Meist konnte er sofort abschätzen, ob der Lebensstil einer Person mit deren Steuererklärung im Einklang stand. Wie oft hatte er sich von Managern schon Wehklagen über eine nahe Insolvenz angehört – um hinterher festzustellen, dass der aufwendige Lebenswandel aus anderen Quellen finanziert wurde.
»Was man bei der Steuerfahndung verdient, weiß ich natürlich nicht«, antwortete Hilscher, »aber als Polizeibeamter kann man sich keine Villa leisten, wie Werner sie wohl in Weilheim vor einigen Jahren gebaut hat.«
»Das hab ich auch gehört«, erklärte Neusser. »Und mehrere Autos soll er ebenfalls gehabt haben.«
Joachim Hilscher nickte. »Und was da sonst noch alles
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