Glasklar
jagte an dem Auto vorbei – hinüber zur Landstraße, über der die Lichter der Gemeinde Aichelberg zu sehen waren.
»Festhalten!«, befahl der Mann hinterm Steuer und bog an der Ausfahrt des Parkplatzes mit quietschenden Reifen nach links ab. Sander kämpfte gegen die Fliehkraft, schaffte es aber trotzdem, den Kopf zur Seite zu drehen, um das Verhalten des Pkw-Fahrers hinter ihnen verfolgen zu können. Dieser schien in aller Eile zu wenden, was Sander aus den wilden Bewegungen des Scheinwerfers schloss. Kaum hatte der Geländewagen den Kreisverkehr erreicht, war das Fahrzeug bereits hinter ihnen.
»Anschnallen!«, schnarrte die Stimme von vorne. Sander fühlte seine weichen Knie. Noch immer wortlos, fingerte er nach dem Gurt, zog ihn um seine Brust und ließ ihn in der Vorrichtung im Sitz einrasten.
Der Wagen schoss um den halben Kreisverkehr und verließ ihn in Richtung Göppingen. Sander wurde erneut durch die heftige Fliehkraft mal nach rechts und mal nach links gezerrt. Dann orientierte er sich wieder zur Mitte, um den Straßenverlauf vor sich sehen zu können.
»Ruhig bleiben!«, befahl der Mann hinterm Steuer. »Haben Sie gehört?«, brüllte er jetzt deutlich aufgeregter. »Sie sollen ruhig bleiben!«
»Okay, ja«, stammelte Sander, der voller Entsetzen zur Kenntnis nahm, dass die Scheinwerfer hinter ihnen dichter aufschlossen.
19.
Joachim Hilscher hatte seinen Kollegen von der Kriminalpolizei einen schriftlichen Bericht zu seinen Beobachtungen auf dem Wasserberg in den Computer getippt, sich dann aber verabschiedet, da er als Uniformierter von der Schutzpolizei mit ganz anderen Aufgaben betraut war. Er bot Häberle jedoch an, für weitere Informationen aus dem Kreise der ehemaligen Schulkameraden jederzeit zur Verfügung zu stehen. Hilscher war zunächst heimgefahren, um beim Abendessen mit seiner Frau die Geschehnisse der vergangenen Nacht zu diskutieren. Ihm war es recht gewesen, dass niemand die Idee vorgebracht hatte, ihn als besonderen Kenner des Täterumfelds in die Sonderkommission aufzunehmen. Er hätte sich vermutlich auch geweigert, seine alten Schulfreunde auszuhorchen. Viel lieber wollte er mit dem einen oder anderen persönlich reden. Inoffiziell sozusagen. Er rief deshalb Erich Neusser an, zu dem er schon zu Schulzeiten ein engeres Verhältnis hatte. Dazu kam, dass sie in derselben Gemeinde wohnten.
Neusser stimmte dem Vorschlag, sich an diesem Abend noch zu einem Gedankenaustausch zu treffen, sofort zu. Kurz darauf saßen sie sich auf der mit Kerzen beleuchteten Terrasse gegenüber und prosteten sich mit einem Radler zu. Zwischen den Einfamilienhäusern hatte sich ein geradezu mediterranes Klima breitgemacht. Brigitte Neusser öffnete eine Packung Erdnüsse und schüttete sie in eine Schale. »Hat man eigentlich von Georg was gehört?«, fragte sie plötzlich.
»Er war wohl bei der Pressekonferenz heut Nachmittag«, erwiderte Hilscher und begann, seine Brille mit einem Papiertaschentuch zu putzen.
»Der wird eine große Story geschrieben haben«, mutmaßte Neusser. »Endlich mal was los in der Provinz – und wir alle sind dabei.«
»Wenn’s nicht so tragisch wäre«, fuhr ihm seine Frau über den Mund und ließ sich wieder auf ihrem gepolsterten Gartenstuhl nieder. »Es muss doch furchtbar sein, auf diese Weise ums Leben zu kommen.«
Ihr Mann verschränkte die Arme und wurde ernst. »Natürlich ist es das. Andererseits gehört verdammt viel Kaltblütigkeit dazu, jemandem ein Messer in den Bauch zu rammen.«
»In den Bauch?«, fragte Hilscher unerwartet zurück, als habe er dies im Laufe des Tages nicht längst erfahren.
Neusser blickte fragend zu seiner Frau, die verständnislos mit den nackten Schultern zuckte.
»War’s nicht so?«, wollte er sich vergewissern und erwartete eine Antwort von Hilscher. Doch bevor der sich äußern konnte, relativierte Erich Neusser: »Wohin soll man sonst stechen? Durch den Brustkorb kommt man nicht so leicht durch – oder sehe ich das falsch?«
Hilscher bestätigte: »Schon ein dickes Kleidungsstück erfordert eine gewisse Kraft, es zu durchstechen. Aber zu dieser Jahreszeit trägt man schließlich dünnere Sachen.« Er grinste Brigitte an, deren Sommerkleidchen aus einem zarten Stoff bestand. »Aber, bitte …«, fuhr er beschwichtigend fort, »ich hab mit den Ermittlungen nichts zu tun. Mir geht es nur darum, dass wir uns nicht, wie soll ich sagen, unnötigerweise in ein Thema verwickeln, mit dem wir alle nichts zu tun haben.«
Neusser
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