Glasklar
Weilheim einzuschlagen. Dann erhob sich vor ihm die große Autobahnbrücke, über die er soeben gekommen war. Er blendete die Scheinwerfer auf, um vor diesem gewaltigen Bauwerk die Einfahrt in den ausgeschilderten Parkplatz nicht zu verpassen. Er setzte erneut den rechten Blinker und steuerte den Golf in einen fein geschotterten Weg. Dort streiften die Scheinwerfer rund ein Dutzend Fahrzeuge, die quer zur bewachsenen Autobahnböschung abgestellt waren. Sander verlangsamte das Tempo auf Schrittgeschwindigkeit und erkannte rechts vor sich die Scheinwerfer eines höheren Autos. Er zögerte, bis er es dank der Umrisse als Geländewagen identifizieren konnte. Dann las er vom reflektierenden vorderen Kennzeichen die Buchstaben- und Zahlenkombination ab. › ES‹ für Esslingen sowie › WH ‹ und eine dreistellige Zahl, die er sich einzuprägen versuchte. Sander spürte, wie sein Herz schneller zu pochen begann. Der Anrufer war also tatsächlich gekommen. Während sie sich kurz gegenüberstanden, ließ der Unbekannte die Lichthupe aufblitzen – zum Zeichen dafür, dass sie sich gefunden hatten.
Der Journalist sah sich in der Dunkelheit nach einer Parklücke um und fuhr seinen Golf rückwärts zwischen einen Opel und einen japanischen Kleinwagen. Seine Knie waren weich geworden, als er ausstieg und die Zentralverriegelung klicken ließ. Obwohl er lange genug diesen Job machte, über viele Kriminalfälle geschrieben und mysteriöse Vorgänge erlebt hatte, so war er nie zuvor in einer Situation wie der jetzigen gewesen. Das monotone Rauschen des Autobahnverkehrs übertönte seine Schritte auf den feinen Schottersteinen. Kaum hatte er sich ein paar Meter von seinem Auto entfernt, blendete der Unbekannte die Scheinwerfer wieder auf. »Stopp, Herr Sander!«, hörte er eine dumpfe Männerstimme aus dem dunklen Innern des Geländewagens. »Sie gehen hinten rum und steigen hinter mir ein.« Es klang streng und wie ein Befehl. Sander blieb kurz stehen, um sich zu orientieren. »Hinten herumgehen und hinter mir einsteigen!«, wiederholte die Stimme.
Der Journalist spielte verlegen mit seinem Schlüsselbund und ging zögernd weiter – links am Geländewagen vorbei, hinten herum und dann zur Tür hinterm Fahrer.
»Steigen Sie ein!«, forderte ihn der Mann auf, der seine getönte Seitenscheibe zur Hälfte herabgelassen hatte.
Wieder zögerte Sander. Wenn er jetzt einstieg, begab er sich in die Hände eines Unbekannten. Blitzartig rief ihm sein Gehirn in Erinnerung, dass in der rechten Innentasche seines Freizeitjacketts die einzige Waffe steckte, die er im Ernstfall hatte: eine alte, verrostete Dose Pfefferspray, dessen Haltbarkeitsdatum aber längst abgelaufen war. Außerdem hatte er es nie ausprobiert und keine Ahnung, wie es wirken würde. Die Verkäuferin hatte ihm damals erklärt, dass Briefträger auf dieses Mittel schworen, um Hunde abzuwehren.
Sander griff zu der stabilen Türklinke und ließ die schwere Tür aufschwenken. Angenehmer Ledergeruch schlug ihm entgegen. Ein neuer Wagen, dachte er, sicher einer vom Feinsten, mit Ledersitzen und allen Raffinessen.
»Einen wunderschönen guten Abend, Herr Sander«, grüßte der Mann hinterm Steuer, ohne sich umzudrehen. »Willkommen an Bord. Steigen Sie ruhig ein. Ich tue Ihnen nichts.«
Sander verharrte einen weiteren Moment, doch zwischen dem Seitenholm und der hohen Kopfstütze des Fahrersitzes konnte er nur die Umrisse eines dicht behaarten Kopfes sehen. Im Armaturenbrett glimmten einige Kontrollleuchten.
»Hallo«, kam es ihm gequält über die Lippen, als er sich auf das kühle Leder setzte, die Tür aber noch offen ließ.
»Geben Sie sich keine Mühe, mich sehen zu wollen«, erwiderte der Unbekannte. Er hatte seinen Innenspiegel so gestellt, dass er zumindest die Silhouette seines Hintermanns erkennen konnte. »Wir sollten keine langen Volksreden halten«, erklärte er. »Bitte schließen Sie die Tür.«
Sander spürte, wie seine Kehle trocken wurde. Er ließ die Tür einrasten, während der Unbekannte deutlich machte: »Wer ich bin, spielt keine Rolle. Wir kennen uns nicht. Ich habe Sie angerufen, weil ich viel von Ihnen gehört habe und weil ich davon ausgehe, dass Sie keiner dieser Sensationsreporter sind, die nur darauf aus sind, irgendeine Skandalgeschichte in die Welt zu setzen. Mir geht es um eine fundierte Berichterstattung.«
Sander fühlte sich geschmeichelt und überlegte, welches Ziel der Fremde mit solchen Bemerkungen verfolgte. Wenn er ihm etwas zu
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