Glasseelen - Schattengrenzen #1 (German Edition)
Vater. Camilla bremste instinktiv. Sie fuhr über zwei Spuren in Richtung der inneren Leitplanke. Es war vermutlich dem ABS zuzuschreiben, dass sie nicht die Kontrolle über den Wagen verlor. Hastig lenkte sie den Mondeo in die Bahn.
Der Golf drosselte sein Tempo, nur um nach einer Sekunde erneut Gas zu geben und auf die linke Spur hinauszuziehen.
Camilla biss die Zähne zusammen. Mit starrem Blick ging sie in die nächste Kurve. Sie war kein Held im Autofahren, aber sie musste etwas unternehmen, um den Golffahrer von Weißhaupt und Chris abzulenken.
Rabiat wechselte sie auf die linke Spur.
»Was machst du?« Ihr Vater arbeitete sich aus dem Polster hervor.
»Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf uns.« Ihre Mutter hielt sich an dem Türgriff fest.
»Das ist Wahnsinn.«
»Sie schützt nur den, den sie liebt.«
Der ruhige Tonfall ihrer Mutter bestärkte Camilla in ihrem Handeln. Sie tat das Richtige. Weißhaupts Wagen zog auf gleiche Höhe mit ihr. Gemeinsam blockierten sie die Fahrbahn. Der VW fuhr dicht auf. Was sollte sie tun? Konnte sie einfach weiterfahren?
Plötzlich bremste Weißhaupt seinen Wagen abrupt herunter.
Ihr Herz blieb fast stehen, doch ein Zusammenstoß blieb aus. Die Lichter beider Fahrzeuge fielen zurück.
Entsetzt verlangsamte sie.
»Fahr.« Ihr Vater schlug gegen den Fahrersitz. »Der Golf hat mehr PS als der Mondeo.«
Und der Fahrer war hundertmal so gut wie sie. Camilla trat das Gaspedal erneut durch. Der Wagen nahm an Geschwindigkeit auf. Hinter ihr fand der VW schlingernd in die Spur zurück und beschleunigte rasend schnell.
Weißhaupt tat das Gleiche. Der Audi holte auf, bedrängte den Golf massiv. Schließlich gelang es ihm, ihn abzudrängen.
»Brems ab, Camilla, komplett runter.« Ihr Vater drehte sich vom Heckfenster nach vorn.
»Bist du blöd?«
»Mach«, brüllte er.
»Scheiße, du spinnst.« Ihr Herz raste vor Angst. Sie trat die Bremse durch. Es war nicht wie im Film. Keine Bremsen kreischten, keine Reifen quietschten und es stank auch nicht nach verbranntem Gummi. Nur das Lenkrad wummerte unruhig in ihren verkrampften Händen, aber der Wagen brach nicht aus. Der Gurt schnitt in ihren Oberkörper, so heftig zog die Bremskraft sie nach vorn.
Als die Tachonadel unter hundert pendelte, lockerte sie den Fuß vom Pedal und wagte einen Blick in den Rückspiegel.
In der Sekunde schoss der Golf an ihnen vorüber. Camilla erhaschte einen Blick auf ein verbissenes Frauengesicht.
»Gib Gas.« Ihr Vater umklammerte die Kopfstütze ihres Sitzes.
Camilla reagierte nur noch. Sie tat, was er sagte.
»Da vorn ist die Auffahrt auf die A115. Fahr drauf.«
Benommen nickte sie und beschleunigte. Der Golf bremste, bis er auf der Bundesstraße stand. Sie überholte ihn auf dem Autobahnabzweig. Kurz vor der Zubringerkurve drosselte sie die Geschwindigkeit. Im Rückspiegel sah sie den Audi. Auch Weißhaupt war dieses halsbrecherische Manöver geglückt. Er überholte und übernahm wieder die Führung. Chris winkte ihr zu und lächelte.
Erleichtert fuhr sich Camilla mit der Hand über die Stirn. Chris ging es gut. Endlich konnte sie wieder durchatmen.
Am liebsten hätte Camilla angehalten und ihren Vater weiterfahren lassen, doch ein Blick in den Rückspiegel sagte ihr, dass aus ihm bereits wieder ein zitterndes, bleiches Wrack geworden war.
Wieso bloß? Konnte es sein, dass er solch große Angst verspürte? Wollte er wegen ihr zurück nach Frankfurt oder fürchtete er um seinen eigenen Hals?
Der Gedanke war zu absurd. So feige konnte er nicht sein. Obwohl … Sie beobachtete ihn und ihre Mutter. Sein Blick strich nervös über Fassaden und Fahrzeuge. Mehrfach drückte er sich tiefer in die Polster, während ihre Mutter gezwungen ruhig neben Camilla saß. Sie strich sich mehrfach das Haar aus der Stirn und wandte das Gesicht ab, wenn ihnen ein Wagen entgegenkam.
»Warum verhaltet ihr euch, als wäre auf euch ein Kopfgeld ausgesetzt worden?«
Der vorwurfsvolle Blick ihrer Mutter prallte an Camilla ab.
»Wie wäre es, wenn ihr mir mal ein paar Infos gebt?«
Hatten sie sich denn nichts mehr zu sagen?
»Falls es euch entgangen sein sollte, Weißhaupt und ich haben euch gerade den Hals gerettet.«
Sie hegte keinen Zweifel daran, dass diese Aktion mit dem Golf eigentlich ihr galt, aber letztlich konnte es nichts schaden, wenn ihre Eltern wenigstens den Hauch eines schlechten Gewissens bekamen.
»Wir sind damals vor deiner Geburt mit meinen Eltern aus Berlin geflohen.«
Überrascht von
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