Glasseelen - Schattengrenzen #1 (German Edition)
der Offenheit ihrer Mutter nickte Camilla.
»Flucht?«
»Als ich dreizehn war, fing ich an, Ost-Flüchtlinge durch die Kanalisationen, U-Bahn- und Fluchttunnel in den Westen der Stadt zu schleusen.« Ihr Vater klang gefasst, nicht mehr nervös. »Amadeo war das überhaupt nicht recht, besonders weil ich einige Familien mit nach Ancienne Cologne brachte. Er fürchtete, dass seine Stadt verraten würde.«
Camilla nickte. »Logisch.«
Am Autobahndreieck Funkturm fuhr Weißhaupt auf die A100 ab und bog über den Rathenauplatz auf den Kurfürstendamm ab. Camilla folgte ihm. Es fiel ihr nicht mehr schwer, den großen Wagen zu fahren.
»Meine Eltern und ich waren Flüchtlinge aus dem Osten der Stadt.« Ihre Mutter wies in die entsprechende Richtung. »Meine Eltern stammten aus Friedrichshain. Sie waren mit dem SED-Regime nicht glücklich.« Müde schüttelte sie den Kopf. »Sie wollten fort, also suchten sie nach Abhilfe.«
Camilla wies nach hinten zu ihrem Vater.
»Genau. Er brauchte allerdings viele Anläufe, uns in den sicheren Westen zu bringen. In dieser Zeit mordete der Sandmann wieder.«
»Wahrscheinlich habt ihr euch in Ancienne Cologne versteckt.«
»Genau.«
Ihr Vater rutschte unruhig im Sitz hin und her und schwieg.
»Wir hatten mehrere Wochen Zeit, die ungenutzt verstrich. Damals starben so viele Frauen.«
Und dutzende Uhrwerkfrauen funktionierten plötzlich wieder, als hätten sie eine Verjüngungskur hinter sich, dachte Camilla bitter. Davon sagte sie vorsichtshalber nichts.
»Claus und ich haben uns angefreundet. Daraus wurde schnell mehr. Er wollte sich nicht mehr von mir trennen.«
Camilla konnte sich ohne weitere Erklärungen denken, wie die Geschichte weiterging. Sie flohen gemeinsam, nicht nur aus dem Osten, sondern auch aus der Unterwelt, wohin niemand aus Ancienne Cologne folgen konnte, abgesehen von Amelie oder Grimm.
»Romantisch.« Eigentlich wollte Camilla ihre Äußerung nicht sarkastisch klingen lassen, aber der Unterton verriet, was sie von der Erzählung hielt.
Verletzt wandte sich ihre Mutter ab.
»Ihr seid also nach Westberlin geflohen und von dort aus nach Frankfurt?« Sie bemühte sich, jeden negativen Unterton zu streichen.
Mit einiger Verzögerung antwortete ihr Vater. »Marion hatte ein paar Verwandte in Frankfurt und Umgebung, die sie bereits sehnlich erwarteten, darunter auch das Ehepaar Hofmann, die nach langem Hin und Her die Rolle meiner Eltern übernahmen und für dich die Großeltern wurden.«
Lügner. Warum hatte er die ganze Zeit hindurch nie den Mut, das auszusprechen? Die Geschichte mit der Flucht hätte schon ausgereicht. Camilla umklammerte das Lenkrad.
»Wussten Theresas Eltern von eurem Geheimnis?«, fragte sie betont gleichgültig.
Das Schweigen beantwortete ihre Frage zur Genüge.
Kalte Leere dehnte sich in ihr aus. Sie vermisste Christophs Wärme und Liebe. Er war greifbar, wirklich und real. Seine Persönlichkeit lag offen im Gegensatz zu dem, was ihre Eltern ihr entgegenbrachten. Das war nichts als ein kaltes Lügengebilde. Beide waren ihr plötzlich fremd. Sie erkannte nichts mehr von den Personen, die sie aufgezogen hatten. Lag dieses menschliche Ödland hinter ihren Masken?
Die Sicherheit ihres Lebens fehlte. Frankfurt, die Stadt, die sie schützte, und all die festen Konstanten. Wahrscheinlich wären sie nie hierhergekommen, wenn nicht ein moralischer Zwang dahintergestanden hätte.
»Warum habt ihr Theresa und mich nach Berlin fahren lassen?«
»Weil wir es für ungefährlich hielten«, entgegnete ihr Vater. »Ich habe im Vorfeld alle Stadtnachrichten gelesen, um herauszufinden, ob der Sandmann gerade wieder in seiner Schlächter-Periode steckt, aber nichts gefunden …«
Camilla lachte humorlos auf. »Klar. Er ist nicht mehr allein und hat seine Taktik geändert. Die Opfer sehen anders aus. Anhand dessen, was ich von Nathanael und Grimm mitbekommen habe, zerlegen die beiden die Frauen nun, um an gute Körperteile zu kommen.«
Ihre Mutter drehte sich angewidert ab.
Camilla verließ ihre Eltern ohne Abschied. Sie wollte nicht mit ihnen reden – am liebsten nie wieder. Als sie zu Weißhaupt in den Audi stieg, setzte sich Chris zu ihr auf die Rückbank. Trotz der räumlichen Trennung voneinander war er direkter Zeuge all dessen, was sie gehört und gesagt hatte. Er umfing und küsste sie. Die Wärme, die er verströmte, beruhigte sie. Wortlos lehnte sie sich an ihn. Für eine Weile nickte sie sogar ein, schreckte aber wieder hoch, als
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