Glasseelen - Schattengrenzen #1 (German Edition)
Sie zog die Beine an den Körper und wandte sich Chris zu. »Ich bin ohnmächtig geworden, als Amelie ihn erschossen hat.«
Chris strich sich durch das wirre Haar. Er wirkte übernächtigt. Seine Haut war aschfahl und die Wangen deutlich eingefallen. Seine Arme schlangen sich um sie.
Als sie sich gegen ihn lehnte, stieg ihr der Geruch nach Seife und Zigaretten in die Nase. Sein ausgeleierter Strickpulli kratzte leicht auf ihrer Haut. Sie registrierte erst jetzt, dass sie – wie vor einigen Tagen, als sie bei ihm erwachte – nackt war. Waren das wirklich nur wenige Tage? Ihr kam es wie Jahre vor, wie ein ganzes Menschenleben.
Eher zwei, oder drei. Das Leben eines Christoph Kowalski, der durch sie lebte, und das eines Andreas Grimm, der mit ihr starb. Sie umklammerte Christoph.
»Ist das alles passiert?«
Er nickte. »Jede einzelne, furchtbare Grausamkeit, Liebes.«
Das Atmen fiel ihr schwer. Ein Druck, wie von Grimms ganzem, immensem Körpergewicht, lastete auf ihrer Brust.
»Wie hast du sein Ableben wahrgenommen?«
Chris vergrub den Kopf an ihrer Schulter. Es schien fast, als wollte er nicht antworten.
»Genau wie du«, antwortete er schließlich. »Ich habe auch das Bewusstsein verloren.«
»Wir bekommen nicht mal den Showdown mit. Wir sind vielleicht Helden.« Ihr ironischer Unterton klang falsch. Sie hatten Grimm in den Tod begleitet und trugen beide weit über die Grenzen seiner Existenz seine Erinnerungen mit sich. Wie sollten sie damit umgehen?
Chris verschloss es sicher in sich. Aber wie ließ sich ein ganzes Menschenleben ertragen, dass plötzlich so fremd und bizarr in ihrem Kopf umherspukte? Würde sie es auf Dauer lernen, damit zu leben, oder es sogar eindämmen können?
»Wie gehst du damit um?«
»Du liegst richtig, Camilla. Ich verschließe ihn in mir. Soll er ein Teil meiner Seele sein. Er hat das Recht dazu.«
Grimm war ihr fremd. Momentan fühlte sie sich noch nicht stark genug, dieses andere Leben in sich zu verschließen. Er hatte ihr noch so viel zu sagen. Das, was er fühlte, wer er war, wollte sie erst ausloten. Sie konnte ihn nicht einfach aussperren. Möglicherweise hatte er das gewusst und sie bewusst gewählt, um seine Erinnerungen zu tragen. Trotz allem hatte Chris recht. Irgendwann musste sie Grimm verschließen, wenn sie nicht Gefahr laufen wollte, sich selbst zu verlieren. Sanft streichelte sie seinen Rücken.
»Wo sind wir eigentlich?«
»In Nathanaels Bau. Er will, dass wir beide erst vollkommen gesund werden, bevor wir uns wieder an die Oberfläche wagen.«
»Erzähl mir, was alles passiert ist. Wie geht es meinen Eltern und Amelie? Wo ist Olympia? Hat sich jemand Denise geschnappt?«
»Ich bin auch erst seit gestern wieder auf den Beinen«, unterbrach er sie.
»Und wie lang warst du bewusstlos?«
»Zirka zwei Tage.«
Erschrocken sog sie die Luft durch die Zähne.
»Deine Eltern warten bereits auf dich. Es geht ihnen gut. Nur war dein Vater nicht sicher, ob du ihn sehen wolltest, weswegen deine Mutter meinte, dass sie sich erst mal im Hintergrund halten.«
»Wo sind sie?« Sie leerte den Becher.
Lächelnd nahm er ihr das Gefäß ab und stellte es auf einem Nachttisch ab.
»Bei Melanie. Nathanael wollte nicht, dass sie sich dauerhaft hier unten aufhalten. Er sagte, es sei zu ihrem Besten. Es gibt wohl nicht sonderlich viele Personen, die ihnen Sympathie entgegenbringen, besonders Denise und Amelie nicht.«
»Denise ist noch da?«
Verhalten nickte er. »Und so unausgeglichen, traurig und zornig, wie selbst Nathanael sie nicht kennt.«
»Sie ist betroffen und am Boden zerstört. Verständlich. Schließlich hat sie Grimm geliebt. Das gibt noch Probleme. Sie ist ein wandelndes Pulverfass.«
»Leider ja.« Chris sank in sich zusammen. »Trauen kann man ihr nicht.«
»Ich hätte damit gerechnet, dass sie entweder flieht, um sich zu rächen, oder dass Habicht und Weißhaupt sie festnehmen.«
»Olympia hat sie sich geschnappt. Trotz all ihrer Taten, der Beihilfe zur Flucht, den Mordversuchen und der Informationsweitergabe von Polizeiinterna wollen die beiden Kommissare nichts gegen sie unternehmen.«
»Aber warum?«
»Ich denke, die beiden haben genug Unerklärliches zu erklären. Dabei hilft ihnen keiner. Hier unten ist Denise unter Aufsicht der anderen Maschinenmenschen und kann weniger Schaden anrichten.«
Camilla atmete tief durch. Sie war nicht sicher, ob das eine kluge Entscheidung war, insbesondere, weil Denise intelligent und aggressiv war, die
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