Glasseelen - Schattengrenzen #1 (German Edition)
Sie rollte sich herum.
»Andreas.« Amelies Stimme überschlug sich.
Während Camilla auf allen vieren in Richtung der Schatten kroch, hörte sie wieder Kampfgeräusche. Amelie musste mit ihrem Bruder ringen.
Was konnte sie tun, um ihrer Freundin zu helfen? Sie richtete sich in der Regalreihe nebenan auf.
Eine irrwitzige, wahrscheinlich vollkommen blödsinnige Idee kam ihr. Vorsichtig testete sie, wie schwer die Buchregale wogen. Sie standen bombenfest. Mit viel Pech waren sie im Boden verschraubt. Sie nahm sich nicht die Zeit, die Theorie zu überprüfen. Allein dagegenzuspringen würde hoffentlich ausreichen, einen Bücherregen auf Grimm niedergehen zu lassen. Er als halber Mensch würde sicher Schaden nehmen, Amelie als Maschine nicht. Das gab ihr vielleicht eine Chance gegen Grimm.
»Amelie, duck dich.«
Camilla warf sich mit dem geringen Anlauf, den der Gang bot, gegen das Regal. Eine Wand konnte kaum unflexibler sein. Trotzdem kippte die Konstruktion ein Stück weit, nur um zurückzuschwingen. Bücher purzelten aus den Regalböden. Das gleiche geschah auf ihrer Seite. Camilla sah schemenhaft, wie sich hunderte Bücher über den Boden ergossen.
Das war in keiner Weise, was sie wollte. Andererseits war das Regal jetzt leicht genug, es mit aller Gewalt umzustoßen.
Ohne zu zögern warf sie sich erneut dagegen.
So der Plan. Ihre Füße verfingen sich in dem Tohuwabohu. Sie konnte sich nicht mehr fangen. Automatisch riss sie die Arme vor, um ihr Gesicht zu schützen und krachte mit der Schulter in die Rückwand.
Das Regal neigte sich langsam, schwerfällig, bevor es in eine Schräglage kam, aus der es kein Zurück gab. Der Fuß des gewaltigen Möbelstücks rammte sich in ihre Beine, dicht unterhalb der Kniescheiben. Der Schmerz war betäubend, ganz anders als der Schuss. Der Stoff ihrer Hose riss. Während sie zu Boden fiel, hörte sie ein unglaubliches Krachen, als das Regal gegen ein weiteres stieß und alle noch verbliebenen Bücher und Bretter zu Boden sackten. Im gleichen Moment schlug sie mit dem Ellbogen auf dem Boden auf. Das Stechen zuckte in Schulter und Handgelenk.
Benommen blieb sie liegen. Ihre Beine, Flanke und Arme taten höllisch weh. Aber dieses Gefühl sorgte dafür, dass sich ihre Sinne rasch klärten. Um sie herum brandeten entsetzte Rufe, Schreie. Jemand rief ihren Namen.
Amelie? Nein, es war nicht ihre Stimme. Schritte polterten über den Boden. Ein Mann, sie roch den Schweiß, sah, dass er groß und schlank war. Grimm?
Jemand zerrte Camilla auf die Füße. Hände packten sie in der Mitte. Ihre Knie gaben nach, doch der Griff um ihre Taille war fest. »Hier, deine Brille.«
Die Stimme war ihr unbekannt. Sie tastete mit tauben Fingern, bis sie den dünnen Metallrahmen zu fassen bekam.
Eines der Gläser war stark zerschrammt, das andere leicht angekratzt. Trotzdem war es besser als nichts.
Der Mann, der sie hielt war … »Ralph?«
»Nein, das ist mein Bruder.«
Camilla schluckte den Kloß im Hals hinunter. Ja, klar, er konnte es nicht sein.
Vorsichtig befreite sie sich aus seinem Griff und fing sich taumelnd. Ein Bein blutete heftig. Der Schmerz war betäubend stark. Auftreten konnte sie nicht. Die Kniescheibe saß irgendwie falsch. Sie stützte sich auf der anderen Seite der Bücherwand ab.
»Wo ist Grimm?«
Er deutete zur Brüstung.
»Ich habe ihn nicht erwischt?«
Zornestränen stiegen ihr in die Augen, als er den Kopf schüttelte.
»Geht es Amelie gut?«
Der Mann schwieg.
Das alles konnte nicht wahr sein. Amelie musste noch leben.
Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen.
Sie humpelte vorwärts. Ihre Seite blutete noch immer und sie fror erbärmlich.
Plötzlich trat Grimm ihr in den Weg. Er sah erschreckend aus. Sein linkes Auge schwoll zu, unter dem rechten war die Wunde wieder offen und blutete. In seinem Torso klafften faustgroße Löcher. Unter den Fetzen seines Shirts hing künstliche Haut hinab. Darunter lag ein feines Geflecht aus Drähten und Nervenbahnen.
Camilla konnte nicht fliehen. Ihr Körper fühlte sich an, als bestünde er nur noch aus Wunden und Prellungen.
Er sah eine Weile stumm zu ihr. Die Männer, die die Stufen hinaufgestürmt waren, wagten nicht, näher heranzukommen.
Ihre Gedanken glitten zu Chris. Ihn noch einmal sehen, mehr wollte sie nicht. Aber Grimm würde diesen letzten Wunsch nicht akzeptieren. Das war nicht seine Art.
Er hob seine Waffe. In seinen Augen glomm kein Zorn. Er wirkte zu Tode erschöpft. Die unendliche Leere in seinem
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