Glasseelen - Schattengrenzen #1 (German Edition)
wusste sie es. Amelie würde seine Qual beenden.
Kapitel 22
Hoffnungen
C amilla durchlebte binnen Sekunden die Existenz eines Menschen, dessen Fähigkeiten fantastisch waren, ohne eine Chance, je selbst zu bestimmen, was er mit dieser Gabe anfing. Er hätte so viel Sinnvolles damit bewirken können, stattdessen litt Andreas Grimm von der Geburt an bis zu seinem Tod. Nur wenige Begegnungen in seinem Leben wurden nicht gesteuert. Ob es ein unglücklicher Zufall oder Kalkül war, dass Amadeos Wahl ausgerechnet auf ihn fiel, um zu Nathanaels Jäger und Schlächter zu werden, wusste Grimm bis zum Schluss nicht. In den wenigen Momenten, die sein Leben ihm gehörte und er die Zeit fand, seine Handlungen zu hinterfragen, erwachte in ihm eine Mischung aus Entsetzen, Selbsthass und panischer Angst. Er wollte sich befreien, aber selbst Nathanael und Denise konnten ihm nicht helfen.
Amadeo band ihn mit jedem weiteren Mord enger an sich. Durch die Polizeiarbeit zwang er ihn an die Quelle der Informationen. Der überheblich selbstsichere Mann, der Camilla bei ihrer ersten Begegnung abgeschreckt und sie mit seinen Fähigkeiten übermannt hatte, war nicht Andreas Grimm, sondern Amadeo. Immer wieder Amadeo. Grimms Persönlichkeit, seine Natur, war bereits in Kindertagen zerbrochen. Die Fragmente der gequälten Kinderseele baten Amelie um den Tod.
Grimm fand in nichts Erfüllung. Sein Opportunismus war ihm Qual, das Morden kein Bedürfnis. Er war lediglich Amadeos mächtigste Marionette – noch mächtiger als Nathanael. Ihn musste der Alte noch weitaus besser kontrollieren als Nathanael.
Der einzige Mensch, der seine Welt mit Freude füllte, war Amelie, seine große Schwester. Seine Gefühle für sie ähnelten der Liebe eines Kindes zu seiner Mutter. Die Wärme, die er in ihrer Nähe empfand, konnte ihm niemand sonst gewähren.
Und dann trat Claus in das Leben der Geschwister. War Camillas Vater Amelies erster Freund gewesen?
Die Zweigleisigkeit der Entfremdung und der Liebe, die Grimm damals erfuhr, berührte Camilla nicht weniger als sie ihn geprägt hatten. Er kämpfte verbissen um die Aufmerksamkeit seiner Schwester. Als Kind konnte er nicht verstehen, dass sie ihm etwas von ihrer Zeit und Zärtlichkeit nahm und sie an Claus weitergab. Grimms Enttäuschung und Einsamkeit mischten sich mit Camillas Verwunderung über die Tiefe, in die der Junge gestürzt war. Das Gefühlschaos, in das sie fiel, durchdrang sie bis in ihre Seele.
Oder war es seine Seele?
In jedem Fall begriff sie, dass Grimms Zorn auf ihre Familie nicht unbegründet war. Ihr Vater hatte dem einsamen Kind den Mutterersatz genommen und Amelie tief verletzt, als er sie zurückließ – schlimmer. Camillas Vater lockte Amelie hinter sich her aus der Unterwelt an die Oberwelt. Er war der Grund ihres Niedergangs.
Wusste Grimm bereits, wen er vor sich hatte, als sie sich in Melanies Büro gegenübersaßen? Oder sogar schon früher, noch auf dem Museumsvorplatz? Die Antwort lag in seinen Erinnerungen, nicht weniger präsent als alles andere.
»Camilla?« Christophs Stimme drang aus ihrem Unterbewusstsein in ihren Verstand. »Camilla, wach auf.«
»Ich schlafe doch gar nicht …« Ihre Zunge fühlte sich schwer an, als hätte sie zu viel getrunken. Sie klebte am Gaumen. Ihr Hals, vom Durst trocken, kribbelte. Sie musste husten. Der Anfall wollte nicht aufhören. Es war ein Gefühl, als hingen winzige Fusseln in ihrer rauen Kehle fest.
Schließlich setzte sich Camilla unsicher auf. Das Gefühl nahm etwas ab. Trotz allem tanzten bereits Lichtblitze vor ihren Augen.
»Hier, trink.« Chris setzte ihr einen Tonbecher an die Lippen.
Vorsichtig, um sich nicht zu verschlucken, trank sie. Der Reiz ebbte zwar ab, aber brennender Durst erwachte. Gierig ließ sie die kalte, dumpf schmeckende Flüssigkeit durch ihre ausgetrocknete Kehle rinnen. Irgendeine Art Kräutersud musste das sein. Auch wenn ihre Geschmacksknospen überhaupt nicht erkannten, um was es sich handelte, linderte es den Reiz in ihrem Hals. Als der Becher leer war, atmete sie tief durch.
»Mehr?«
Sie nickte und nahm dankbar den zweiten Becher entgegen, trank aber weitaus langsamer. Aus zusammengekniffenen Augen spähte sie in das Halbdunkel. In der Bibliothek befand sie sich sicher nicht mehr. Dort gab es keinen Tee und auch kein weiches Bett mit weißen Laken, wie das, in dem sie lag.
Grimms Tod musste sie geistig vollkommen aus der Welt geschossen haben. Ha ha … dummer Wortwitz.
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