Glasseelen - Schattengrenzen #1 (German Edition)
einen weiteren Zug und drückte den Stummel an der Wand aus. Achtlos ließ er ihn fallen.
»Das in jedem Fall. Aber ich glaube, es war auch nicht in seinem Sinn, dass meine Mutter ausgerechnet in seinem Haus starb und er sich um ein Neugeborenes kümmern musste. Er hatte etwas mit ihr vor, soviel konnte ich zumindest herausfinden. Anderen Junkies gewährt er nicht die Gastlichkeit seines Hauses.«
Die Ironie in seinen Worten ließ sich schwer ignorieren.
»Wie kam sie hierher?« Bevor sie etwas dagegen tun konnte, erwachten in ihrer Vorstellung Bilder einer jungen Frau, die mit Amadeo im Bett lag. Unwillkürlich schüttelte sie sich, zumal ihr seine trockene Leichenhaut in den Sinn kam.
»Amelie sagte, dass der Sandmann sie gejagt hätte. Sie lebte damals an der Oberfläche. Um ihr Sicherheit zu geben, brachte Amadeo sie hierher.« Er zögerte. Ihm fiel es schwer, zu sprechen. »Sie ist auf den Kinderstrich gegangen. Abhängig war sie auch. Die Drogen hatten sie ziemlich fertig gemacht. Ich war ihr Tod.«
Impulsiv umarmte sie Chris. Amelie hatte es Chris erzählt … Camilla ließ ihn los und sah ihm in die Augen. Sie ähnelten Amelies. Camilla biss sich auf die Unterlippe.
»Hat Amadeo die Seele deiner Mutter in Amelies Körper verpflanzt?«
Chris nickte. »Olympia erzählte mir davon. Sie hat Amadeo damals geholfen, die Augen einzusetzen.«
Sie begriff Amadeos Verhalten nicht. Warum ließ er dieser armen Seele nicht ihren Frieden? Ihr Herz füllte sich mit Abscheu. Sie ballte die Fäuste. Ein Verdacht erwachte.
»Wenn er Puppen beseelen kann, muss er ein Labor haben, genau wie der Sandmann.«
»Das habe ich gefunden, als ich klein war.«
Ihre Finger schlossen sich um die seinen. »Wirklich?« Aufgeregt trat sie von einem Fuß auf den anderen. Dieses Labor musste sie einfach sehen.
»Ich habe noch etwas gefunden.« Er zögerte, weiterzusprechen. Offensichtlich fand er Gefallen daran, ihre Neugier anzuheizen.
»Was denn?«, drängte sie.
»Es gibt eine unglaublich große Bibliothek tief unter dem Haus.«
»Wie?« Hitze schoss in ihre Wangen. Eine uralte Büchersammlung wäre ein unfassbarer Besitz. Sie würde ihr Leben geben, einmal darin zu stöbern. Scheiße! Nicht ihr Leben. In Zukunft sollte sie sich die Zunge am Gaumen festtackern , ehe sie derart banale Redewendungen in den Mund nahm oder auch nur dachte. Sie rieb sich die Hände am rauen Stoff ihrer Hose. »Vielleicht finden wir weitere Hinweise auf den Sandmann und können endlich alle Puzzleteile zusammensetzen.«
»Warte!« Chris hob eine Hand. »Langsam, Camilla. Ich war als Kind das letzte Mal dort.«
Sie straffte sich. »Dann sollten wir Kindheitserinnerungen aufleben lassen.«
Durch eine kaum sichtbare Klappe im Hochparterre des alten Bauernhauses gelangten sie über eine steile Steintreppe in einen Schacht, in dem sich nicht einmal Danny DeVito zu seiner vollen Größe hätte aufrichten können. Chris schrammte an manchen Stellen beidseits mit den Schultern an den Wänden entlang.
Camilla war froh, dass sie Amadeos Buch in einer Wandnische unterhalb des Zugangs versteckt hatte. Dieser Tunnel erinnerte zu sehr an ihre Flucht, wobei allein der Gedanke reichte, mehr Adrenalin durch ihre Adern zu pumpen. Im Fall des Falles wollte sie die Hände frei haben. Mit dem Folianten hätte sie sicher niemanden erschlagen können. Andererseits wünschte sie sich jetzt doch, irgendetwas in den Fingern zu halten, woran sie sich festhalten konnte. Sie rückte dichter zu Chris auf.
Spinnweben bewegten sich an den grob behauenen Wänden, als tanzten sie im Takt des flackernden Lichts der Öllampe. Der Gang vermittelte den Charakter eines Rollenspiel- Dungeons . Nichts von dem Zauber Ancienne Colognes haftete ihm an. Camilla konnte kaum glauben, dass dieser Weg zu der sagenhaften Bibliothek führte. Sie haderte mit ihrem inneren Dämon, der unbedingt Abenteuer erleben wollte und dachte lieber nicht an die Rückenschmerzen, die sie im Anschluss haben würde. Das verkörperte noch die mildeste Form ihrer Angst.
Sand und Steinchen rieselten ihr in Nacken und Pulli. Sie begann, ihre Schritte zu zählen. Von Amadeos Haus mussten sie bereits ein gutes Stück entfernt sein. Hatte Chris nicht gesagt, die Bibliothek würde sich tief darunter befinden? Sollten sie nicht langsam an eine Treppe gelangen?
Nach geschätzten zweihundert und gefühlten tausend Metern neigte sich der Boden ab, während die Decke ihre Höhe beibehielt. Camilla stöhnte, als sie
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