Glasseelen - Schattengrenzen #1 (German Edition)
stirbt.«
»Genau.«
Sie hatte die Anfangssequenz noch immer in Erinnerung. Damals wirkte die Bildlichkeit der Erzählung lang nach. Sie sah die Szene wie einen Film. Die nachfolgenden verloren an Kraft, sodass sie viele verdrängt hatte. »In seiner Studentenzeit trifft er auf einen Mann, den er anfangs für Coppelius hält.« Sie überlegte angestrengt.
Chris ergriff ihre Hand. »Streng dich nicht so an.«
»So schnell gebe ich nicht auf.« Tatsächlich konnte sie weitere Fragmente der Geschichte zusammentragen. »Der Mittelteil geht furchtbar durcheinander. Darin tauchen seine Verlobte und deren Bruder auf. Er ist auch kurze Zeit nicht in der Stadt …« Sie hob die Schultern. Die Informationen in ihrem Kopf ordneten sich. Sie stieß eine Tür in ihren Erinnerungen auf. Mit einem Mal wollten alle Gedankenfetzen gleichzeitig heraussprudeln. »Als er zurückkommt, ist seine Wohnung ausgebrannt. Er muss zu seinem Professor umsiedeln. Dort lernt er Olimpia kennen und verliebt sich in sie.«
Chris hob die Hand. »Nicht so schnell.« Er lächelte. » Coppela hieß der Wetterglashändler, der ihn so eingeschüchtert hatte. Wegen dieses Mannes schrieb Nathanael seinem Freund Lothar, der auch der Bruder seiner Verlobten Clara war. Der Brief ging aber versehentlich an Clara. Sie erklärte Nathanael für überspannt und er widerrief schließlich seine Aussage, dass Coppela und Coppelius identisch seien.«
Camilla nickte und rieb die Handflächen an ihrer Hose. Chris fasste die Geschichte so einfach in Worte, während ihr die Hälfte des Inhalts fehlte.
»Studierst du Literatur?« Der Kommentar sollte scherzhaft klingen.
Als Chris wie selbstverständlich den Kopf schüttelte, begriff sie, dass er weitaus gebildeter war, als er den Anschein vermittelte. In seiner Gegenwart kam sie sich ungebildet und dumm vor.
»Erzähl weiter«, forderte sie ihn auf.
Chris zögerte. »Olympia war die vermeintliche Tochter seines Professors. Anfangs dachte Nathanael ebenfalls, sie sei etwas seltsam …«
»War es nicht dieses komische Fernrohr, das er von Coppela kaufte?« Bei der Erwähnung dieses Gegenstandes musste sie wieder an den Selbstmörder denken. In einer Hand hielt er ein antikes Fernrohr. Ein eisiger Schauder rann ihr über den Rücken.
»Das Perspektiv.«
»Das Ding verzerrte Nathanaels Wirklichkeit vollständig«, murmelte Camilla. Sie rutschte an der Wand etwas hinab und nagte an der Unterlippe. Das Bild des toten Mannes manifestierte sich. Fröstelnd rieb sie über ihre Arme. »Dann kommt doch die Szene mit den blutigen Augäpfeln.« Die Parallelen lagen auf der Hand.
Chris nickte wieder. »Professor Spalanzani und Coppela streiten sich um die Puppe Olimpia. Coppela wirft sie sich über die Schulter, um zu fliehen. Dabei fallen ihre Glasaugen heraus. Das Blut daran lässt Nathanael glauben, dass Olimpia tot sei.«
»Er versucht, seinen Professor dafür umzubringen.«
Chris führte den Handlungsstrang weiter. »Er wurde durch die Schaulustigen davon abgehalten, die durch den Lärm angelockt herbeiliefen.«
Ihre cineastische Vorstellungsgabe erweckte seine Worte zum Leben. Während die Szenen wie in einem Stummfilm mit beinah übertriebenen Gesten abliefen, flackerten immer wieder Erinnerungen an Theresas zerschnittenes Gesicht und die entsetzlichen Minuten auf der Museumsinsel auf.
»Furchtbar«, war das Einzige, was sie hervorbrachte.
Chris’ Stimme durchdrang ihre Abwesenheit. »Er wacht erst zu Hause bei seiner Mutter wieder auf. Seine Mutter, Siegmund, Lothar und Clara sind bei ihm.«
Um die Bilder von sich zu schieben, konzentrierte Camilla sich auf seine Worte. »Wollten Nathanael und Clara nicht heiraten?« Ihre Stimme schwankte.
»Ja. Sie nahm ihn zurück.«
»Schließlich kam die seltsame Szene auf dem Turm«, murmelte Camilla. »Er sah Coppelius in der Menge unter dem Turm und nahm das Perspektiv, um ihn besser erkennen zu können. Als er Clara damit ansah, drehte er durch und wollte sie umbringen.« Die Worte rannen von ihren Lippen, ohne dass sie den Inhalt wahrnahm. Sie verbiss sich in der Erinnerung an den Toten, in dessen Hand das Fernrohr lag.
Chris berührte sie sanft an der Schulter. Sie zuckte zusammen. Erst jetzt gelang es ihr, die Gedanken beiseitezuschieben.
»Das ist die eigentliche Geschichte«, sagte er leise.
Camilla ergriff seine Hand. Aus ihrem Schreck entwickelte sich das Gefühl, etwas sehr Wichtiges erfahren zu haben. Ein weiterer Anhaltspunkt lag in greifbarer Nähe.
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