Glasseelen - Schattengrenzen #1 (German Edition)
dem Spiegelgewirr. Der Sandmann kam ihnen gefährlich nah. Keine zehn Schritte trennten sie.
»Hoch!« Chris stieß sie unsanft die Treppe hinauf.
Instinktiv sprang sie auf die eisernen Stufen. Chris folgte ihr, trieb sie unbarmherzig an. Schweiß rann ihren Rücken hinab. Flüssiges Feuer schoss durch ihre Adern. Trotzdem wurde sie schneller. Sie flog förmlich die Treppe hinauf, Chris’ rasselnden Atem im Nacken.
Unter seinen schweren Schritten bebte die Metallspindel. Plötzlich erzitterte die Konstruktion in ihrer Verankerung. Camilla nahm sich nicht die Zeit, hinabzusehen. Das Geräusch von reißendem Eisen kreischte in ihren Ohren. Ein mechanisches Scheppern und Rasseln folgte. Die Aufhängung der Spindel schwankte immer stärker.
Gehetzt sah Camilla hinauf. Der Deckenanker brach. Eiserne Ketten fielen herab. Chris schrie etwas, sie verstand es nicht. Plötzlich warf er sich über sie und drückte sie auf die Stufen. Ihr Knie kollidierte mit dem Rost, die scharfe Kante schnitt in ihre Haut. Brennende Impulse jagten unerträglich bis in ihre Schläfen. Camilla schrie und presste beide Hände auf ihre Kniescheibe. Der Druck minderte den Schmerz auf ein erträgliches Maß, doch ihr Herz raste, als wollte es aus der Brust springen. Die Gegengewichte schwangen von der Decke und pendelten dicht über ihren Köpfen. Chris passte einen Moment ab, in dem sie keine Gefahr liefen, getroffen zu werden.
Er ließ sie los. »Lauf!«
Sie federte hoch. Stiche schossen durch ihr Knie und ließen sie einknicken. Chris hielt ihre Hüften umklammert und schob sie vorwärts. Camilla krallte sich verbissen an das Geländer und humpelte aufwärts. Das wütende Gebrüll des Sandmanns und Chris’ energisches Schieben halfen, den Schmerz zu ignorieren. Sie stürzte die Stufen hinauf und klammerte sich bei jedem Schritt an dem eisernen Handlauf fest, um sich neuen Schwung zu geben.
Ein weiterer Schlag traf die Konstruktion. Die Treppe schwang weit aus. In dem Angriff lag so viel Gewalt, dass Camilla sich ducken und festklammern musste. Das Gerüst schlug nach oben aus und begann zu pendeln. Es fehlten vielleicht noch zwei Höhenmeter bis zur nächsten Ebene.
»Los!« Chris riss sie auf die Füße. Ihr Atem pfiff in ihren Lungen. Sie sprang auf.
Unter ihr schlug der Sandmann seine Klauen in die Spindel. Er riss an dem Geländer. Dieses Monstrum konnte kein Mensch sein. Seine Kräfte überstiegen alles, was sie kannte.
Nicht Angst trieb sie an, sondern blanker Hass. Ihre Wut setzte weitere Kraftreserven frei. Camilla warf den Kopf in den Nacken. Die Ketten schwangen immer noch so dicht an ihr vorüber, dass sie ihnen nur mit knapper Not entging.
Mit einem kreischenden Geräusch neigte sich die Spindeltreppe nach rechts. Camillas Herz setzte kurz aus. Ihr schwindelte, der Boden schwankte ihr entgegen. Eine der Ketten glitt erneut an ihr vorüber. Camilla kniff die Augen zusammen und griff zu. Der Ruck, der durch ihre Arme in die Wirbelsäule ging, zerriss sie fast. Verzweifelt klammerte sie sich fest. Eine Sekunde später betäubte das Bersten alten Metalls ihre Ohren. Entsetzt sah sie hinab.
»Chris!« Verzweiflung brannte in ihren Augen, im Hals. »Chris!«
»Schrei nicht so!« Seine raue, atemlose Stimme kam von irgendwo über ihr. Wie ein Affe kletterte er an einer anderen Verankerungskette hoch.
»Beeil dich!« Sein Kopf zuckte in die Richtung einer anderen Spindeltreppe.
Camillas Herz wollte davonflattern, so leicht fühlte es sich jäh an. Kraft schoss in ihren Leib, trieb ihren Überlebenswillen an. Sie hangelte sich an der Kette hinauf und als sie die Galeriebrüstung erreichte, begann sie zu pendeln. Ihr Schwung nahm beständig zu, bis er sie über die Balustrade trug. Camilla ließ die Kette los und schlug auf dem lädierten Knie auf. Ihr Sichtfeld färbte sich von außen nach innen schwarz.
Chris zog sie auf die Füße. Halb trug er sie, halb schleifte er sie mit, bis sie die Tür erreichten. Nie zuvor war es Camilla so schwergefallen, ihre verbleibenden Kräfte einzuteilen. Die steile Treppe mit den unterschiedlich hohen Blockstufen erschwerte ihr, das Tempo beizubehalten. Sie hoffte inständig, dass es dem Sandmann nicht anders ging. Auch Chris’ Schritte erlahmten zunehmend. Jeder Meter geriet zu einer Tortur.
Hinter ihr schwoll das Gebrüll des Monsters an.
Camillas Adrenalin reichte nicht mehr aus, um genügend Energie zu geben. Ihre Atemzüge gerannen zu Säure, die ihre Lungen verbrannte. Beine und
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