Glasseelen - Schattengrenzen #1 (German Edition)
nicht mehr darin. Camilla suchte auf den von Hand beschriebenen Seiten vergeblich nach einer Nummerierung. Diese Aufzeichnungen stammten nicht von Amadeo, Bild und Form erinnerten an eine saubere Druckschrift, wie sie es von den alten Bauunterlagen ihres Vaters kannte. Einige andersfarbige Notizen standen in verständlicher Sprache an den Rändern. Sie überflog die akkuraten Buchstaben.
»Verdammt, was ist das?« Die Niederschrift hatte nichts mit Amadeos lyrischem Geschwafel zu tun. Camilla zog sich die Laterne heran. »Kupferschraube mit Plättchen in ausgefräste Kugel drehen und anziehen, um die Zuleitung für das Hydrauliköl an der Pumpe zu befestigen …« Sie blätterte weiter. Auf einer anderen Seite wurde das Feilen und Polieren einer bestimmten Sorte von Schrauben und Kupferblättchen erklärt. Bei der nächsten Darstellung zuckte sie zusammen, das Blut wich ihr aus den Wangen.
Das Bild eines offenen Frauentorsos, in dem ein feines Räderwerk dargestellt wurde, dominierte ihr Sichtfeld. Mit sauberen Pfeilen und Seitennotizen wurden die einzelnen Zahnräder und Federn beschrieben. Camilla ergriff Chris’ Arm. »Das ist nicht Amadeos Bibliothek«, hauchte sie. »Sie gehört dem Sandmann!«
Christoph starrte mit schreckensbleichem Gesicht geradeaus und klappte den Mund auf und zu.
In der gleichen Sekunde roch Camilla den dumpfen Leichengeruch, der sie auf ihrer Flucht begleitet hatte. Sie fuhr zusammen.
In einem der Spiegel, die das Licht ihrer Lampe verstärkten, reflektierte ein totenblasses, hageres Gesicht. Der breite Mund war nichts als ein lippenloser Riss, der nicht in der Lage war, die gewaltigen, fingerlangen Zähne zu verbergen. Seine Nase erinnerte an den Schnabel eines Raubvogels. Sie reichte bis zu seinem Unterkiefer. Aber das Schrecklichste waren die tief liegenden, schwarzen Augen, die jede noch so geringe Bewegung verfolgten. Boshafte Intelligenz glomm darin.
Camilla spürte es bis in die letzte Faser ihres Körpers. Das musste der Sandmann sein!
Dünnes Spinnwebenhaar bewegte sich, als er sich einen Schritt auf Chris und Camilla zuschob. Eine Strähne glitt über seine gewaltigen Schultern und fiel auf einen grotesk dünnen Oberschenkel hinab. Dieses Wesen war riesig. Es überragte Chris um einen Kopf.
Camilla wagte kaum, zu atmen. Sie mussten fort!
Den Weg nach vorn versperrte der Tisch und hinter ihnen näherte sich der Sandmann.
In ihrem Hals bildete sich ein harter Kloß, den sie nicht schlucken konnte. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie sich Chris’ Finger langsam der Öllampe näherten. Sie überschlug seine Möglichkeiten. Er konnte den Sandmann angreifen oder die Seiten in Brand setzen. Wozu er sich auch entschied, er musste sich beeilen.
Ihre Muskeln spannten sich zum Sprung über den Tisch. Aber Chris zögerte. Ihr Herz raste.
Der Sandmann hob seine Klauenhand und streckte sie nach ihnen aus. Seine Nägel berührten eine Locke an ihrer Seite.
Ihr Atem stockte. Im gleichen Moment schleuderte Chris die Lampe. Sie zersprang. Petroleum spritzte heraus und traf Gesicht und Oberkörper des Monsters. Tropfen der öligen Flüssigkeit fielen zu Boden, tränkten den Stoff jedoch nicht. Flämmchen tanzten über den monströsen Leib, ohne sonderlichen Schaden anzurichten. Träge flackerte sein Frack. Nur das feine Haar fing Feuer.
Sie nahm sich nicht länger Zeit, darauf zu achten, was der Sandmann tat. Mit einem Sprung hechtete sie über den Tisch. Ohne zu zögern rannte sie los.
Chris schloss auf. Grob ergriff er ihre Hand. Zum ersten Mal spürte sie, wie stark er war. Er riss sie mit. Ihr blieb nichts weiter zu tun, als sich aus Leibeskräften anzustrengen, mit ihm Schritt zu halten.
Geschickt wich er Regalen und Mobiliar aus. Hinter ihr stürzten Bücherwände um. Ein Dominoeffekt setzte ein. Camilla riskierte einen Blick und bereute es gleich. Der Sandmann wählte den direkten Weg. Ihr Vorsprung schmolz rasch. Das Monstrum walzte alles nieder, was ihm in den Weg kam. Er konnte kein Lebewesen sein – dieses Geschöpf musste einem Albtraum entsprungen sein. Es verhielt sich wie eine außer Kontrolle geratene Maschine. Der Sandmann machte sich nicht einmal die Mühe, seine brennenden Haare zu löschen.
»Schneller!«, brüllte Chris sie an.
Der Raum schrumpfte bei ihrem atemlosen Tempo. Chris hielt auf die metallene Spindeltreppe am Ende zu. Auf dem letzten Stück lichtete sich das Mobiliar. Es gab nichts mehr, was sie umrunden mussten.
Feuerschein reflektierte in
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