Glattauer, Daniel
umtauschen. Die Eltern
waren glücklich, Katrin doch noch daheim zu haben, wo sie zu Weihnachten nun
einmal hingehörte. Fünfmal ging sie aufs Klo, um zu heulen. Sonst blieb sie
trocken. Am Ende der Feier glaubten die Schulmeister-Hofmeisters nicht mehr,
dass aus der baldigen Hochzeit etwas werden könnte.
Drei Jahre
später war Katrin noch immer nicht verheiratet. Sie hatte zwei unter diesem
Gesichtspunkt eher mühsame Weihnachts-/Geburtstagsfeste bei ihren Eltern
hinter sich und beschloss, noch einmal zu probieren, am Heiligen Abend auf
eigene Faust ein Jahr älter zu werden. Den Eltern täuschte sie dringenden
Verdacht auf Windpocken vor. Der Arzt hätte ihr strikt verboten, das Bett zu
verlassen oder Besuche zu empfangen.
Katrin
hatte sich virtuell verliebt. Er hieß Clemens. Einige Wochen zuvor war er aus
dem Chatroom in ihre Mailbox getreten. Was ihn von Katrins bisherigen Männern
unterschied: Er wollte nichts von ihr und sie musste ihm nichts geben. Jeweils
nichts außer E-Mails. Clemens war absolut unaufdringlich. Er trat nicht in
Erscheinung. Er schrieb nur.
Seine
Texte waren nicht von großer literarischer Originalität. Er erzählte meistens,
was er gerade machte. Da er immer gerade schrieb, schrieb er, was er sich dabei
dachte. Das klang dann so: »Ich sitze vor dem Computer und überlege, was ich
dir schreibe.« - Das fand Katrin nett. Sie selbst erzählte nie, was sie gerade
tat. Oh doch, eigentlich schon. Im konkreten Fall antwortete sie: »Was
überlegst du dir dabei?« - Und genau das hatte sie sich tatsächlich gerade
gefragt.
Der Dialog
mit Clemens war ein Ratespiel. Er musste erraten, wer sie war. Er war rührend
bemüht, sich ein Bild von ihr zu machen. Sie streute höchstens ein paar
versteckte Hinweise ein. Sie konnte ihm nicht alles über sich erzählen.
Erstens wäre dann das Spiel beendet gewesen und man hätte miteinander aufhören
oder mit dem Ernst beginnen müssen, man hätte also wahrscheinlich ein Treffen
vereinbaren müssen. Zweitens war Katrin damals weit davon entfernt, alles
über sich selbst zu wissen. Hätte sie es gewusst, hätte sie nicht dagesessen
und mit einem fremden Typen, von dem sie lediglich das Alter kannte (35),
wochenlang »stille Post« gespielt. Sie wollte auch gar nicht alles über sich
wissen. Es war viel spannender zu lesen, was ein Mann von ihr hielt, der sie
nicht kannte. Auch Katrin war an jener Katrin interessiert, die sie noch nicht
kannte. So lernten sie sie beide neu kennen, und dies auf absolut
unverfängliche Weise. So schien es zumindest am Anfang.
Knapp vor
Weihnachten hatte sie sich dann plötzlich in ihn verliebt. Er schrieb: »Soll
ich dir was sagen?« Sie antwortete: »Ja, warum nicht?« Darauf er: »Du bedeutest
mir viel.« Sie: »Ehrlich?« Er: »Ja, ich träume von dir.« Sie: »Hoffentlich
gut.« Er: »Wie siehst du eigentlich aus?« Sie: »Ich bin leider potthässlich.
Details erspare ich dir.« Er: »Das macht nichts. Egal wie du aussiehst, für
mich bist du schön.« Natürlich spürte Katrin, dass das im Grunde ein schlimmer
Satz war. Clemens dürfte ihn auch nicht erfunden, sondern schon einmal wo
gehört haben. Wäre jemand anderer damit gemeint gewesen, hätte sie die Ansage
mit der spontanen Anhebung ihres rechten Nasenflügels quittiert und rasch aus
ihrem Gedächtnis nach Hollywood verbannt. Aber die Worte galten diesmal ihr.
Sie war gerührt und hatte Herzklopfen. Sie schrieb: »Danke. Das war lieb.« Er
antwortete: »Ich habe mich in dich verliebt.« Sie erwiderte: »Das ist schön.«
Das »Ebenfalls« behielt sie einstweilen für sich.
Am
Vormittag ihres 28. Geburtstages war es dann so weit. Sie schrieb an Clemens:
»Ich habe ein kleines Weihnachtsgeschenk für dich. Nichts Besonderes. Ich
würde es dir gerne geben. Hast du heute irgendwann zwischendurch kurz Zeit? Es
ginge auch spät am Abend. Ich habe nichts vor.« - Als sie ihm diese E-Mail
sendete, war ihr, als wäre ihr Magen eine Baustelle und die Arbeiter hätten
gerade die Presslufthämmer angeworfen. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals
so viel aufs Spiel gesetzt zu haben, um einem irrationalen Gefühl von Zuneigung
nachzugehen.
Das
Geschenk war übrigens ein Büchlein mit E-Mail-Dialogen, eine Art »Best of
Katrin and Clemens«. Sie hatte die Mitteilungen von Beginn an aufgehoben und
daraus nun in schöner Handschrift eine geraffte Chronologie des Abtastens und Kennenlernens
gebastelt. Beim Abschreiben der Sätze, die Clemens an sie gerichtet
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