Glattauer, Daniel
hatte,
verliebte sie sich endgültig besinnungslos in ihn und musste dringend eine
Aktion der Annäherung setzen. Am liebsten hätte sie ihn sofort geküsst - am
liebsten mit geschlossenen Augen. Sie brauchte nicht zu wissen, wie er aussah,
er musste nur physisch anwesend sein. Küssen per E-Mail ging noch nicht.
Die
Antwort kam erst am späten Nachmittag. (Bis dahin glaubte sich Katrin auf dem
Weg zu einer neuen persönlichen Bestleistung im Verbringen von letztklassigen
Weihnachts-/Geburtstagen.) Er schrieb: »Habe jetzt erst deine Mitteilung
gelesen und bin halb in Ohnmacht gefallen vor Überraschung und Freude.
Natürlich können wir uns treffen. Bin am Abend bei meiner Großmutter. Komme
aber gegen neun nach Hause. Maile dir gleich, wenn ich daheim bin.«
Als zehn
vor neun seine Nachricht auf Katrins Bildschirm angezeigt wurde, setzten die
Arbeiter in ihrem Magen die Bautätigkeit mit schweren Kranwagen fort. Clemens schrieb:
»Ich bin schon daheim. Ich könnte in einer halben Stunde bei dir sein.« Darauf
sie: »Willst du nicht wissen, wo ich wohne?« Darauf er: »Ich weiß es.« -
Schwerer Ausrutscher eines Kranwagenfahrers, beträchtlicher Sachschaden.
Katrin schrieb: »WOHER?????« Clemens antwortete: »Wir kennen uns.« -
Kranwagenzusammenstoß, wenig Chancen auf Überlebende. Katrin begann Clemens zu
hassen und schrieb: »WOHER????????????« - Er erwiderte: »Ich bin aus deiner
Filiale. Wenn du reinkommst, sitze ich links am zweiten Schalter. Wir lächeln
uns immer an. Am 4. November hast du bei mir 8500 Schilling abgehoben.« - Magendurchbruch,
Schaden irreparabel, keine Überlebenden, sofortige Einstellung sämtlicher
Bauarbeiten. Sie schrieb: »WIESO WEISST DU DAS?????« - Er antwortete: »Ich bin
ein Computerfreak und habe den Code für den anonymen Chatroom geknackt. Dabei
hab ich dich entdeckt.«
Katrins
letzte E-Mail an Clemens: »Ich will nicht wissen, welches der Bank-Gesichter
dort dir gehört. Richte deinem Chef aus, dass ich die Filiale wechseln werde.
Dann noch frohe Weihnachten. Und tschüss!«
Eine
Stunde später rief die Mutter bei ihr an und wünschte ihr alles Gute zum
Geburtstag, alles Gute zu Weihnachten, alles Gute für die Windpocken, alles
Gute im Allgemeinen, alles Gute im Speziellen von Papa, und die Geschenke
warteten schon auf sie. Katrin hatte gerade eine dicke Schicht Nivea-Creme auf
die geschwollenen Augen aufgetragen und sagte, dass es ihr plötzlich so gut
gehe, dass der Arzt erlaubt hätte, dass sie das Bett ausnahmsweise verlassen
dürfe. Kurzum: Sie würde nach Hause kommen. Und zwar gleich. »Aber Goldschatz,
wir wollten gerade schlafen gehen«, sagte die Mutter. Noch besser, dachte
Katrin und machte sich fertig.
9.12.
Kurt
lag unter seinem Sessel und dachte an nichts. Eines seiner kaffeebraunen
Glaswürfel-Augen war offen. Er musste es irgendwann in der Nacht irrtümlich
aufgemacht und zu schließen vergessen haben. Max war gut aufgelegt und lehnte
am Fenster, um das ungewöhnliche sonntagmorgendliche Naturschauspiel zu
beobachten. Er schätzte diese Art von Katastrophen. Die Stadt war zwar
hoffnungslos zugeschüttet, aber mit sich vollkommen im Reinen. Es hatte 24
Stunden hindurch geschneit. Nun standen früh entschlossene Führerscheinbesitzer
mit langstieligem Werkzeug zur Schnee-Umverteilung am Straßenrand und bauten
ihren Restalkohol vom Vorabend ab. Jeder schaufelte sein eigenes Fahrzeug aus
und dabei gleichzeitig jenes vom jeweils rechten Nachbarn wieder zu. Am Ende
war immerhin eines von sieben Autos - das linksäußerste - halbwegs schneefrei.
Zumindest für ein paar Minuten. Dann kam der Schneepflug.
Max hatte
am Vormittag daheim zu tun. Und das freute ihn. Er hatte sich die Arbeit extra
für die Bewältigung des Sonntags aufgehoben. Ihm war ein viertes
journalistisches Aufgabengebiet in die Hände gefallen. Über die Seite fünf der
»Rätsel-Insel« erstreckte sich allwöchentlich ein Pin-up-Girl. In den ersten
Jahren des Magazins hatte es dort lustige Baby-Fotos gegeben. Als man auf
Nacktfotos umsattelte, stieg die Auflage um ein Drittel. Als man von lasziven
Weichzeichnungen auf klarere Linienführung überging und schärfere Motive aus
den ehemals kommunistischen Staaten Europas verwendete, verdoppelte sich die
Auflage. Viele Pensionisten gaben »Schlüsselloch« und »Sexy-Hexy« auf und
abonnierten die »Rätsel-Insel«. Denn dieses Magazin war auch daheim
herzeigbar, man musste es nicht mühsam vor den Ehefrauen verstecken. Es war
nicht
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