Glattauer, Daniel
einen runterholen.«
Bei »Als
Kind muss Lesley jede Menge Pfirsichkerne verschluckt haben, denn ...« musste
Max seine Arbeit unterbrechen. Er hatte nur noch zehn Minuten Zeit, Kurt auf
die Beine zu stellen und auf einen Winterspaziergang vorzubereiten. Der
Deutsch-Drahthaar stand unmittelbar vor seinem ersten Rendezvous mit einem
anderen Menschen als Max. Das heißt: Er lag unmittelbar davor.
Der gelbe
Fleck am Eingang zum Esterhazypark war Katrin. Kurt dürfte sie trotz
Schneegestöbers schon von weitem als eine Person erkannt haben, bei der er
unter Leistungsdruck stand, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Er hielt dem
Druck nicht stand und zog in die andere Richtung. Er wollte wieder nach Hause.
Ihm war kalt. Es war nass. Die Drahthaare heizten nicht ordentlich. Das
offenbar zu Dekorationszwecken angelegte Gitter auf der Schnauze nervte
schwer. Der Schnee zwickte zwischen den Pfoten und juckte auf dem Fell. Er und
Max waren bereits länger als fünf Minuten unterwegs. Sein rechtes hinteres Bein
hatte kaum noch Kraft. Er hatte es sekundenlang von sich gestreckt. (Er war ein
Rüde. Er musste das so machen.)
Die
Übergabe erfolgte ohne Komplikationen. Max drückte Katrin, von der man nichts
sah, weil sie in einem gelben Watteballon mit Sehschlitzen steckte, bei
ruhendem Hund die Leine in die Hand und sagte: »Sie können ihn ruhig
loslassen. Er läuft sicher nicht davon.« Sie vereinbarten einen Hundrückgabezeitpunkt
am selben Ort. Bis dahin wollte Katrin mit Kurt einen kleinen Gewöhnungsspaziergang
wagen und ihm bei Kaffee und Hundekuchen ihre Wohnung zeigen - die lag gleich
auf der anderen Seite des Esterhazyparks. Max wünschte ihr viel Glück für die
kommenden Stunden und hinterließ ihr zur Sicherheit seine Adresse. »Und wenn
er nicht gehen will, dann lassen Sie ihn einfach liegen«, rief er ihr nach.
Katrin und
Kurt verstanden einander auf Anhieb. Sie hatte sich nie zuvor mit einem Hund
beschäftigt, er sich nie zuvor mit einem Menschen. Sie verabscheute
Hundegebell, ihm widerstrebte Menschengeplapper. Beide hassten den Winter.
Beide litten unter Kälte und Schnee. Beide sehnten sich nach Frieden und
Geborgenheit. Beide waren von an Toleranz grenzender Gleichgültigkeit beseelt.
Beide ließen die anderen so sein, wie sie waren, und bestimmt auch dort stehen
(beziehungsweise liegen), wo sie sich befanden. Irrtum: Gerade in diesem
sensiblen Bereich ging Katrin nach wenigen harmonischen Augenblicken ihren
eigenen Weg.
Konkret
war es so, dass sie Kurt die Leine abnahm und einige Meter durch den Schnee
stapfte. Als sie sich umdrehte, lag der Hund noch immer auf dem Platz, an dem
die Übergabe stattgefunden hatte. Auf das Kommando »Hierher!« ereignete sich (aus
Kurts Sicht) nichts Dramatisches. Auch nicht auf das zehnmalige Kommando »Hierher!«,
auch nicht auf die jeweils mehrmaligen erweiterten Kommandos »Kurt, hierher!« -
»Kurt, komm hierher!« Und: »Blöder Hund, komm hierher!« Auch nicht auf erweiterte
Ausfälligkeiten und Entgleisungen wie: »Kannst du nicht gehen?« - »Hast du
keine Beine?« - »Bist du schwerhörig?« - Oder: »Elast du keine Beine und bist
du zusätzlich schwerhörig?« Auch nicht auf mehr oder weniger gefährliche
Drohungen wie: »Wenn du keine Beine hast, soll ich dir welche machen?« - »Das
sag ich deinem Herrl!« (Der war gut! Kurt hätte gerne gelacht.) - »Ich rufe den
Abschleppdienst.« - »Ich rufe den Tierarzt.« - »Ich rufe die
Tierkörperverwertung.« - »Ich rufe den ambulanten Seifenverarbeitungsdienst.«
Lind: »Wenn du nicht gleich gehst, kannst du dir Weihnachten bei mir
abschminken.«
»Also gut,
du hast gewonnen, komm her und wir gehen heim«, war zwar nur noch resignativ
geflüstert. Aber Kurt hatte entweder Mitleid oder ein Einsehen oder einen Energieanfall.
Er erhob sich und stand wenige Minuten später neben ihr, wo er einen Kreis
drehte, sich dabei einrollte und in den Tiefschnee fallen ließ. Das weckte
Katrins Ehrgeiz. Sie ging ein paar Schritte weiter, rief im gleichen tristen
Tonfall: »Kurt, du hast gewonnen, komm her und wir gehen heim!« - Kurt trottete
nach. Das Spiel ließ sich noch drei weitere Male wiederholen. Sie waren nicht
mehr weit von Katrins Wohnung entfernt.
Als sie
die Wegstrecke verdoppelte und sich umdrehte, war der Hund verschwunden. Sie
suchte ihn eine Stunde lang. Sie durchforstete den gesamten Esterhazypark. Sie
ging jeder Spur nach, sogar Vogelspuren. (Vielleicht hatte sich Kurt von Vögeln
abschleppen
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