Glattauer, Daniel
dachten es bestimmt.) Mama fragte: »Ist es etwas
Ernstes, Goldschatz?« Katrins normale Antwort wäre gewesen: »Mama, wir haben
uns gestern kennen gelernt«. Aber sie wollte ihrer Mutter keinen zweiten
weihnachtlichen Tiefschlag versetzen und meinte: »Es schaut nach etwas Ernstem
aus. Deshalb wollen wir heute zu zweit feiern.« Die Mutter weinte am Telefon -
aus Trauer, weil Katrin am 24. nicht heimkommen würde, aber auch aus Freude
über die bevorstehende Hochzeit, auf die die Schulmeister-Hofmeisters nicht
mehr zu hoffen gewagt hatten.
Katrin
hatte niemanden kennen gelernt. Und zwar absichtlich. Sie war in einer Phase,
in der sie ihr Single-Dasein zelebrierte, als wäre es ein Tage und Wochen
füllendes vegetarisches Degustationsmenü. Dabei fühlte sie sich ausgezeichnet.
Die Namen ihrer letzten drei männlichen Versuche (um nicht Versuchungen zu
sagen) hatte sie vergessen. (Wer konnte ihr das Gegenteil beweisen?) An den
Abenden blieb sie daheim und las esoterische Bücher, die sie jede Minute ein
Stückchen näher zu sich selbst brachten. Wenn sie sich erreicht hatte, sah sie
fern und ging dann früh schlafen, um am nächsten Tag fit für den nächsten Abend
zu sein, an dem sie esoterische Bücher lesen, fernsehen und früh schlafen
gehen wollte. Ab und zu telefonierte sie mit bemitleidenswürdig in
zwischenmenschliche Beziehungen verstrickten Freundinnen und riet ihnen,
einmal in sich selbst hineinzuhören. Die Freundinnen hörten aber in der Regel
nichts. Die Telefonate wurden immer seltener.
Als erster
Höhepunkt dieser erfüllenden Epoche bot sich der Heilige Abend an. Katrin hatte
erstmals in ihrem Leben einen Christbaum gekauft und ihn mit roten Holzäpfeln
und roten Kerzen geschmückt. Sie hatte Kekse gebacken, Fisch gebraten und
Mayonnaise-Salat zubereitet. Sie befand sich in einem derartigen
Ausnahmezustand des inneren Glücks und des Eins-Seins mit sich, dass sie sogar
mit Erzfeind Bing Crosby Frieden schloss und ihn in den CD-Player schob. (Kein
Mann hatte ihr Schlimmeres angetan als er - bestechend pünktlich, alle Jahre
wieder, zumeist im Chor mit dem festlichen Geheule ihrer Mutter aus Liebe zur
Tochter und Mangel an Schwiegersohn.)
Das Essen
schmeckte ihr richtig gut. Es war wunderschön, zu »White Christmas« die
brennenden Kerzen der Tanne zu beobachten. Schließlich öffnete sie zur Feier
des Lebens eine Pikkoloflasche Sekt und stieß mit sich auf Weihnachten mit
sich, auf Geburtstag mit sich und auf sich im Allgemeinen an. Dabei hätte sie
sich gerne fotografiert, aber das wäre technisch zu kompliziert gewesen. Nach
dem ersten Schluck Sekt sah sie in den Spiegel und bemerkte, dass ihre
Mundwinkel erfreulich weit nach oben gezogen waren. Es ging ihr tatsächlich
verdammt gut. Es waren ihre schönsten Weihnachten. Sie genügte sich nicht nur,
sie war sich mehr als genug. Sie brauchte niemanden. Sie war stolz auf sich.
Nach dem
zweiten Schluck fand sie sich neuerlich vor dem Spiegel. An ihren Mundwinkeln
hatte sich nichts verändert. Das irritierte sie ein bisschen. Nach dem dritten
Schluck blieb sie länger vor dem Spiegel stehen und versuchte, ihre Mundwinkel
wenigstens einen Millimeter nach unten zu korrigieren. Es ging nicht.
Hoffnungslos. Katrin war einfach zu glücklich.
Einen
Schluck trank sie noch. Dann holte sie Bing Crosby aus dem CD-Player und brach
ihn in vier Stücke. In zehn Sekunden räumte sie den Baum ab. Dann rannte sie in
ihr Schlafzimmer, warf sich auf ihr Bett und verließ es erst eine Stunde später
wieder, als es auf dem Kopfpolster keine trockene Stelle mehr gab. Danach
schaute sie noch einmal in den Spiegel. Endlich: Die Mundwinkel waren herunten.
Katrin ging es beschissen wie noch nie.
Sie musste
sofort ihre Wohnung verlassen. Jeder Gegenstand darin kam ihr falsch und
verlogen vor, das gesamte Weihnachtsszenario war geheuchelt. Auf der Suche nach
der geeigneten Ersatzdroge für ihre plötzliche Verzweiflungssucht rief sie bei
den Eltern an und teilte ihnen so sachlich wie möglich mit, dass sie nun doch
einen Sprung vorbeikommen würde. »Kommt ihr zu zweit, Goldschatz?«, fragte die
Mutter aufgeregt. »Nein, er muss schon schlafen gehen«, erwiderte Katrin
genervt. »Ist er schon volljährig?«, fragte die Mutter. Es war 9 Uhr.
Bei den
Eltern gab es eine Geburtstagstorte mit 25 Kerzen und Geschenke: einen Walkman
für Mini-Discs, drei Esoterik-Bücher, die sie sich in ihrer abgelaufenen Ära gewünscht
hatte, und violett-weiße Sportschuhe, Marke: sofort
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