Glattauer, Daniel
ist uns leider zu kurzfristig.
Sami muss arbeiten, ich bin mit Freundinnen verabredet. Aber am Wochenende ist
Sami auf einem Seminar. Da hätte ich Zeit. Lass von dir hören. Paula.«
Und
Natalie hatte geantwortet: »Hallo Max. Ich bin nicht beleidigt. Ich bin nur
verwundert. Ich hatte dich eigentlich nicht so eingeschätzt, dass du dich von
heute auf morgen schleichst (und übermorgen plötzlich wieder auftauchst). Ich
habe dir sehr vertrauliche Dinge von mir gesagt - und hatte jetzt mehrere
Wochen Gelegenheit, meine Offenheit dir gegenüber zu bereuen. Edgar hat heute
ein Blockseminar. Ich habe also am Abend Zeit. Mein Interesse gilt jetzt
weniger dir als deiner Erklärung. Ruf mich also an. Wenn ich dich hiermit
verschreckt habe, lass es bleiben. Gruß, Natalie.«
Sie hatte
ihn zwar nicht verschreckt, aber ihm war nun doch eher danach, es bleiben zu
lassen. Bis 6 Uhr nachmittags wartete er auf eine Antwort von Katrin. Dann
rief er bei ihr an, sprach ihr auf den Anrufbeantworter: »Kurt muss jetzt schon
dringend. Lange können wir nicht mehr auf dich warten.« Kurt wollte natürlich
nicht müssen. Er lag unter seinem Sessel und schlief. Max richtete sich bis 8
Uhr auf einen Heimabend mit Toast, Ketschup, Doris Lessing, Teletext, Cabernet
Sauvignon und Herby Hankock ein. Dann fand er sich mit seiner Ruhelosigkeit ab
und rief Natalie an. Er überließ ihr sogar noch den Heimvorteil. Ihr »Willst du
mich nicht besuchen?« klang unverbindlich. Sonst hätte er nicht eingewilligt,
zu ihr zu gehen. Kurt blieb daheim. Und bewachte das Haus. (Kleiner Scherz.)
Natalie
hätte man niemals auf 22 geschätzt, obwohl sie klein, zart und mit einem
kindlich anmutenden blonden Pagenkopf ausgestattet war. Sie hatte eine tiefe
raue Stimme, altersweise braune Augen, die sie in der Minute fünfmal
zusammenkniff, um die Altersweisheit unter Beweis zu stellen, und schmale
Hände, die grazil vor ihrem Gesicht tanzten, um jede ihrer Aussagen zu
bekräftigen, was gar nicht notwendig gewesen wäre. Ihre Aussagen waren kräftig
genug. Ihr fehlte jede Spur von Naivität und jeder Ansatz einer Bereitschaft,
Naivität vorzutäuschen, um schutzbedürftig zu wirken. Dieser Mangel machte sie
jugendlich abgeklärt. Das gefiel Max an ihr.
Als
kleines Vorprogramm zu seinen mit Spannung erwarteten »Erklärungen«, warum in
aller Welt er sich ihr hatte verweigern können, erzählte sie von ihrer abgekühlten
Liebe zu Edgar, dem Anglistikprofessor, der nicht fähig war, sich für sie zu
entscheiden. Da »abgekühlt« und »Liebe« im Tonfall Natalies ein Widerspruch in
sich war, ahnte Max, dass ihr der Professor noch immer sehr viel bedeutete,
dass sie ihn keineswegs aufgegeben hatte, dass sie sich vielmehr für seine polygamische
Lebensweise bei ihm rächen wollte. Als sie ihren Pullover auszog und wie sie
ihn auszog und ihr Body darunter keiner war, den man zufällig anhatte, wusste
Max, wann und mit wem sie sich bei ihrem Professor rächen wollte: jetzt und mit
ihm.
Seine
Entscheidung, ihr nicht die Wahrheit zu sagen, fiel, als sie »Also jetzt
erkläre mir, was damals mit dir los war« sagte - und wie sie es sagte. Sie
schmunzelte dabei. Sie rückte ganz nah zu Max und berührte sein Knie mit ihrem
Handrücken. Sie verzichtete auf das misstrauische Zusammenkneifen ihrer Augen.
Sie erwartete eine schmeichelhafte Antwort, spürte Max. Sie wollte hören, dass
sie ihm zu selbstbewusst und anspruchsvoll gewesen war, dass er eine
»unkomplizierte Geschichte« mit ihr angestrebt hatte und dass er plötzlich das
Gefühl gehabt hatte, mit ihr sei nur eine »ernstere Sache« möglich; etwas in
der Art.
Erstens
verabscheute Max seinen zerstörerischen Stehsatz »Tut mir leid, mir graust vor
Küssen«. Zweitens hatte er plötzlich das Gefühl, er könnte es diesmal schaffen.
Der Wein war ihm zu Kopf gestiegen und hatte die Konturen seiner traumatisch im
Hirn verankerten fetten Sissi aufgelöst. Und drittens: Ja, er war erregt. Sehr
sogar. Er hatte das Bedürfnis, Natalie zu spüren, ihre Haut zu berühren, seine
Hände um ihren Rücken zu schlingen, sie an den Hüften zu nehmen, fest an sich
zu drücken, sich auf sie zu legen, seinen Körper an ihrem zu reiben, in sie
einzudringen, ihr in die vor Begierde glänzenden Augen zu sehen, wie diese
seine Erregtheit beobachteten und gleichzeitig stimulierten, anfeuerten und
auf die Spitze trieben.
Sie war
dazu bereit, sie lud ihn ein. Sie begann sich mit ihrem Oberkörper katzenartig
auf sein Gesicht
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