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Glattauer, Daniel

Glattauer, Daniel

Titel: Glattauer, Daniel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Weihnachtshund
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nichts tat? Sie mochte den
Nebel, aber sie mochte ihn nicht allein (da hatte sie Angst vor seiner
umhüllenden Tristesse), nur in Begleitung, und nicht in irgendeiner Begleitung.
Es wäre ein schöner Spaziergang gewesen und nachher hätten sie ja noch etwas
trinken gehen können, Glühwein, ja, warum nicht Glühwein, warum nicht rot
anlaufen vor innerer Hitze. Bei Max konnte man bestimmt rot anlaufen, ohne
sich dafür zu genieren.
    Stattdessen
war sie wegen eines »akuten Notfalls« bei Beate gesessen. Joe hatte ihr seine
aktuelle Frauengeschichte verraten. Katrin riet ihr, ihn endlich stehen zu
lassen. Beate fragte Katrin, was sie falsch mache. Katrin dachte »alles« und
sagte: »Wird schon werden.« Die traditionelle Zeremonie dauerte drei Stunden.
Als Belohnung gab es zwischendurch Spaghetti Bolognese nach Beates Art. Katrin
ging hungrig und leer nach Hause.
    Am Abend
hatte er ihr noch einmal aufs Band gesprochen. »Kurt muss jetzt schon
dringend. Lange können wir nicht mehr auf dich warten.« Katrin hatte seinen
Spruch gespeichert und dreimal hintereinander gehört. Und vor dem Schlafengehen
hatte sie ihn noch einmal gehört. Es war ein schöner Spruch, Max hatte eine
angenehme Stimme. Als Kind hatte sie sich immer Spieluhren ans Ohr gelegt. So
ähnlich klang der Spruch für sie. Seine Stimme hatte Melodie. Oh doch, er war -
nett. Und er hatte einen netten, ruhigen Hund.
     
    Im
Wartezimmer - und das passte zu dem Tag - saß Aurelius. Katrin erkannte ihn
schon an der Art, wie er Zeitung las. Wenn einem Bildhauer die ruhmreichen
Posen ausgegangen waren, dann musste er nur Aurelius sehen, wie er Zeitung
las, und schon hatte er die ideale Vorlage für ein monströses Denkmal eines
Vertreters der obersten Bildungselite.
    Der
lesende Aurelius hielt die Linke heldenepisch vor die Brust, bildete aus den
Fingern eine Trinkschüssel und legte den Ellbogen des rechten Armes so hinein,
dass der Unterarm senkrecht in die Höhe ragte und der Zeigefinger nur wenige
Zentimeter vor der rechten Schläfe des seitlich gebeugten Kopfes endete,
während der Daumen in der Kinngrube einrastete. Das Gesicht des lesenden
Aurelius wirkte in seiner vollen Konzentration geradezu schmerzverzerrt. Man
sah einen Mann, der las, um zu denken, und dem dieses Denken unweigerlich weh
tun musste, weil sein Gehirn mit Wissensinhalten und Lebensweisheiten bereits
prall gefüllt war.
    Las er nun
Zeitung - und es war stets das größte Format einer Zeitung, das da vor ihm lag
-, so drängten pausenlos neue Ansichten und Gesichtspunkte in die mit Erkenntnisreichtum
bereits vollbesetzten Ganglienzellen. - Diesen Druck sah man Aurelius an,
deshalb das schmerzverzerrte Gesicht. Linderung wäre erst eingetreten, hätte
Aurelius die Möglichkeit gehabt, überschüssige Erkenntnisse an Zuhörer
abzuladen, ihnen ein bisschen etwas von der Welt zu erklären. Aber zum
Weitblick-Schärfen der geistig unterprivilegierten Menschheit war der
Warteraum einer Augenarztpraxis nicht der richtige Ort. So las er für sich,
litt dabei vor stiller Weisheit und wartete auf seinen Termin.
    Katrin
wusste natürlich, dass er wegen ihr gekommen war. Seit es aus war zwischen
ihnen, das heißt: seit Katrin klar war, dass es nicht anfangen würde, kam er
alle paar Wochen. Zunächst schob er Gebüschzeilen von dunkelroten Rosen via
Boten vor, um am nächsten Tag als zweite, noch originellere Überraschung
persönlich vor der Tür zu stehen. Als Katrin zweimal hintereinander »leider
nicht alleine« war und ihn mittels Sprechanlage abfertigte, disponierte er um
und besuchte sie in der Praxis von Dr. Harlich. Es hatte für ihn den
zweifelhaften Vorteil, dass sie ihm dort in die Augen schauen musste, wenn sie
sagte: »Aurelius, du weißt, ich mag dich, aber das wird nichts aus uns
beiden.« Er bezahlte dafür per Krankenschein.
     
    Die schöne
Zeit mit Aurelius lag genau ein Jahr zurück (und hatte elf Tage gedauert). Sie
lernten einander im Einkaufszentrum Süd kennen. Dort war ein Weihnachtsmann
beim Verteilen von Werbegutscheinen umgekippt. Die Kinder lachten und auch die
älteren Passanten fanden die Showeinlage gut. Katrin beugte sich über den
Liegenden und befreite ihn von seiner Vermummung. Eine hochprozentige
Rum-Wolke entwich. Der Weihnachtsmann war betrunken und bewusstlos. »Ist ein
Arzt hier?«, rief Katrin in die geschockte Menge. - Nein, es war keiner da.
Nur ein wunderschöner Mann mit goldbrauner Gesichtsfarbe im dunkelgrauen Sakko
über einem hellgrauen Gilet über

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