Glattauer, Daniel
überstandene. Er war gewollt,
von ihm selbst erzwungen und gesteuert. Seine Zunge war es, die ihre berührte
und umhüllte, nicht umgekehrt wie sonst. Es gab keinen Druck dagegen, nur
Verschmelzung. In ihrem Mund war es warm, weich und wohlig.
Max
empfand Lust. Er wollte Katrin gerade seine Arme um den Hals legen. Er wollte
sich an sie schmiegen, wollte beide Körper auf möglichst viele Berührungspunkte
bringen und in dieser Stellung fixieren, wollte weiter küssen, bis ihnen die
Luft ausging, bis sie Wasser brauchten oder zu verhungern drohten.
Doch dann,
nach dieser Zehntelsekunde harmonischer Kussewigkeit, sprang ihm ein Befehl ins
Gehirn, der dazu da war, einen Gedanken zu verhindern. Er lautete: Nur jetzt
nicht an das Gegenteil denken, nicht an die fette Sissi. Und schon startete sie
in ihm hoch und presste ihm imaginäre drei Finger in den Rachen. Er musste den
Kuss sofort abbrechen und sich von Katrin losreißen, um das Ärgste zu
verhindern.
Nun kam
das Zweitärgste. Während er seinen bis zum Hals stehenden Übelkeitsspiegel
abzusenken versuchte, schaute ihn Katrin an. Eine Serie folternder Blicke stach
auf ihn ein: ein in ausgelieferter Ahnungslosigkeit harrender; ein in der
Spannung zwischen unabdingbarer Hingezogenheit und rüder Abgewiesenheit
verstorbener; ein rasche und lückenlose Aufklärung einfordernder; ein zur
sofortigen Wiedergutmachung aufrufender; und ein letzter Blick, ein den
unbegreiflichen Abbruch nicht wahrhaben wollender.
Danach
schloss sie die Augen, rückte ihm wieder näher und strich mit ihren Fingern
über seine Wangen. Sie verlangte nach einem zweiten Kuss, der die beklemmende
Sequenz des weggeworfenen ersten Kusses wegen übertriebener Unlogik vergessen
lassen sollte.
Bevor sich
ihre Lippen berühren konnten, drehte Max seinen Kopf zur Seite. Er wusste
nicht, wann er sich für eine Geste jemals mehr geniert und gehasst hatte als jetzt
für diese. »Kann ich ein Tuch haben?«, fragte er beinahe stimmlos. »Ich muss
dem Hund die Pfoten und das Fell abwischen, sonst macht er alles dreckig.« -
Danach war es still. Dazu hatte Katrin nichts zu sagen.
»Willst du
gehen?«, fragte sie ihn eine Ewigkeit später. Dazwischen war nichts. Kein Wort,
kein Blick, keine Regung. Oder? Oh doch, natürlich, sie hatte ihm die Wohnung
gezeigt. Er hatte sie vermutlich darum gebeten. Die Wohnung war groß, hell und
möbliert, glaubte er sich nachher erinnern zu können. Ob und worüber sie sich
unterhalten hatten, wusste er nicht mehr.
»Nein, ich
will noch nicht gehen. Ich will dir etwas erklären«, erwiderte er angespannt
ruhig, wie ein zynischer Lehrer, der seinen Beruf verabscheut, weil er den
Stoff nicht vermitteln kann. Er nahm sie bei den Schultern, um im Falle der
Unwirksamkeit seiner Worte mittels Schütteln einen Umschwung herbeiführen zu
können: »Katrin, mir g ...« - Er schluckte und würgte den Satz hinunter.
(»Kannst du nicht endlich einmal ein anderes Wort als >grausen< verwenden?«,
hörte er Paula fragen.) »Mir tut es nicht gut, wenn ich küsse.« - Für den
Missklang dieses Satzes haftete Paula mit dem Wert der Apotheke, dachte er.
»Dir tut
es nicht gut?«, fragte Katrin, vielleicht um die Aussage mit eigener Stimme ein
kleines Stück aus der Irrealität zu ziehen. Ihr Blick war mit einem Schleier
überzogen, als hätte sie sich Vorhänge umgehängt, um die Augen zu schützen.
»Dann tu 's nicht«, sagt sie. »Niemand zwingt dich dazu.« Das klang
kosmetischer als ein Vorwurf. Jetzt war sie weit entfernt von ihm, stand
gesichtslos wie ein kühles Modell vor einem anonymen Betrachter. Sie hat
»küssen« mit »lieben« verwechselt, spürte Max. Alle Frauen verwechselten küssen
mit lieben, das war sein Problem.
An der Tür
klingelte es, beide erschraken, für beide war der Schreck erlösend, endlich
konnten sie ihre Erschrockenheit ausleben. So was passierte normalerweise nur
in Filmen, die noch rasch gut ausgingen oder in einer endgültigen Katastrophe
enden wollten. Im konkreten Fall musste der Regisseur übergeschnappt sein: Denn
Hugo Boss junior (oder ein als solcher verkleideter Tennislehrer) stellte einen
Baum von Orchidee vor der Tür ab, trat ein und fragte: »Störe ich?« Dagegen
klang »Mir tut es nicht gut, wenn ich küsse« wie ein Hamlet-Zitat, dachte Max.
Der Mann
schob ihm unter dem Decknamen »Aurelius« eine makellos flache hornige Hand
entgegen. Sein kantiges Gesicht drehte sich über die Schulter zu Katrin, um
einer weinerlichen Miene zu
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