Glattauer, Daniel
gestatten, sich bei ihr zu entschuldigen, davon
ausgegangen zu sein, dass sie für diese Stunde (er blickte mit den Zähnen voran
auf eine goldene Armbanduhr) hier ein Treffen vereinbart hatten, um anschließend
ins Kino zu gehen. »Ich habe dir eine E-Mail geschickt«, begründete er. »Du hast
nicht geantwortet«, begründete er. »Das Tor war offen«, begründete er. »Da
dachte ich mir ...«, begründete er.
»Schön,
dass du gekommen bist«, sagte Katrin wie ein Tonband. »Ich war ohnehin gerade
dabei zu gehen«, vervollständigte Max im Gleichklang. Mit dieser spektakulären
Lüge hatte er seine Niederlage freiwillig besiegelt. Als guter Versager reichte
er Katrin so warm wie möglich die Hand und quetschte ein beinahe geschmunzelt
taktvolles »Danke schön« heraus. Im Esterhazypark wünschte er sich, wie eine
Herde frustrierter Wölfe losheulen zu können. Doch er musste an Paulas Gesicht
denken und dabei lachen.
Aurelius
durfte nicht lange bleiben. Katrin erlitt Sekunden, nachdem Max die Wohnung
verlassen hatte, einen heftigen Migräneanfall, der sich noch verstärkte und in
Schreikrämpfe überging, als ihr Aurelius vorschlug, neben ihrem Bett sitzen zu
bleiben, bis sie sich besser fühlte. Nach einer Viertelstunde hatte sie ihn
endlich so weit, dass er einsah, ihr nicht helfen zu können, und ging. Mit
dieser Hinauswurf-Leistung konnte sie sich einige Zeit über die erlittene
Enttäuschung hinwegtrösten.
Dann
spürte sie, wie in ihr die Bitterkeit des Kuss-Erlebnisses hochstieg. Sie
beschloss, nicht davor zu flüchten. Sie gab vor sich zu, in Max hoffnungslos verliebt
zu sein. Aber sie schwor sich, das Wort »hoffnungslos« wörtlich zu nehmen und
ihm keine Chance mehr zu geben, ihr näherzukommen. Zur Bestätigung steckte sie
Telefon-, Fernsprech- und Computer-Kabel aus.
Um sich in
ihrem Unglück noch professioneller zu fühlen und gewissenhafter zu suhlen,
legte sie sich ins Bett, drehte das Fernsehgerät an und surfte durch die
Kanäle. Bei einer Dokumentation zum Thema »Früherkennung und wirksame Methoden
gegen Hepatitis E« blieb sie hängen. Das war ein würdiger Ausklang dieses
Abends, dachte sie. Beim fünften Hepatitis-E-Patienten, der über seine
Erfahrungen berichtete, gönnte sie sich den Luxus einzuschlafen.
17.12.
Als Katrin
aufwachte, war irgendetwas anders als sonst. Natürlich fiel ihr sofort das
Kussdesaster ein. Auf diesem ließ sich kein Montag aufbauen, kein Arbeitstag,
Wintertag, Dezembertag, Adventtag, siebenter Tag vor Weihnachten, siebenter
Tag vor dem 30. Geburtstag. Darum öffnete Katrin lieber erst gar nicht die
Augen. Darum bemühte sie sich, in einen die Gedächtnisleistung ausschaltenden,
bewusst bewusstlosen Agoniezustand zu verfallen. Sie fühlte sich ans Bett
gefesselt und jeder Arzt, der etwas von Psychologie verstand, hätte ihr die
Unfähigkeit attestiert, dieses in den nächsten Tagen zu verlassen.
Aber
irgendetwas war anders. Es roch anders. Katrin fehlte die Kraft, diesem Geruch
nachzugehen. Sie verkroch sich unter der Decke, bemühte sich, an nichts zu
denken, und wenn ihr Gedanken an Max in den Kopf stiegen, so drückte sie sie
mit dem Kopfpolster nieder. Noch nie hatte sie ein Mann so tief verletzt. Noch
nie hatte sie sich in einem Gefühl der Zuneigung so sehr getäuscht. Noch nie
war sie in einem Zustand der vollkommenen Öffnung und Hingabe schroffer zurückgewiesen
worden. - Küssen tat ihm nicht gut, nein, küssen tat ihm eben nicht gut. Es tat
ihm nicht gut, tat ihm nicht gut, tat ihm nicht gut, diesem Schwein!
Aber
irgendetwas war anders. Auch tief unter der Decke. War es ihr Atem? Woher hatte
sie plötzlich diesen schweren Atem? Hatte sie vom Vorabend einen
psychosomatischen Schaden davongetragen? Hatte sie plötzlich Asthma? Sie hielt
die Luft an und hörte in sich hinein. Da war ein Geräusch, aber es kam von
außen. Bauarbeiter? Dachdecker? Schneeschaufler? Nein, es war näher. Es war wie
ein immer währendes leichtes Beben. Das Epizentrum musste sich im Raum
befinden. Das Bett vibrierte.
Katrin war
noch nicht bereit, der mysteriösen Sache auf den Grund zu gehen. Sie konnte
noch keine Alltäglichkeiten zulassen. Sie presste die Augen zu, drückte die
Handinnenflächen auf die Ohren und versuchte (vergeblich), an nichts zu
denken. - Was war das für ein Komiker, dem küssen nicht guttat? Was war das
für ein Perversling? Wieso musste sie auf ihn hineinfallen? Wieso gefiel
ausgerechnet er ihr? Wieso ließ sie diesen einen von
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