Glattauer, Daniel
andächtig zum Hundehimmel
richtete. Hätte er nicht die anarchistische Hells-Bells-Kappe auf dem Kopf
gehabt, hätte man ihn für tiefreligiös gehalten.
Die
Figuren waren nun mit ihrem Programm am Ende und kehrten in ihr Häuschen
zurück. Kurt erwies ihnen die letzte Ehre und verbeugte sich wie ein englischer
Butler. Danach wandte er seinen Blick von der Uhr ab, schüttelte sich,
lockerte seine Muskeln und machte Dehnungsübungen. Da erst bemerkte er, dass
Katrin neben ihm stand und ihn beobachtete. Das war ihm peinlich. Er gähnte aus
Verlegenheit und bemühte sich, so zu tun, als wäre nichts gewesen. In der Folge
ließ er sich bequem aus dem Uhrengeschäft schleifen und kaute nun auch wieder
an dem im Maul entdeckten Lippenfoto der Lisbeth Willinger. Dabei hob sich die
Rocker-Kappe im Takt.
Beim
Abgang war Katrin damit beschäftigt, Kurt zu begreifen. Die Jagduhr für den
Vater hatte sie vergessen.
Im
Esterhazypark kam ihr die Sehnsucht nach Max entgegen. Also machte sie kehrt.
Doch die Sehnsucht ging mit. Und nur Kurt blieb stehen. Er war gegen Sehnsucht
immun (nicht aber gegen öde weihnachtliche Fußmarschfleißaufgaben). Katrin
drehte fünf schnelle Runden, um ihre Gedanken schwindelig zu machen und ihre
Gefühle mit Fliehkräften abzuschütteln. Sinnlos. Der Esterhazypark war übersät
mit Sehnsucht nach Max. Sie kroch aus dem Winterboden, steckte hinter
Gebüschen, fiel aus kargen Baumwipfeln. Blieb Katrin stehen, wartete sie
geduldig, lief Katrin davon, so holte sie sie rasch ein. Schließlich lasen sie
Kurt auf und gingen zu dritt zu ihr nach Hause - Katrin, der Hund und die
Sehnsucht nach Max.
Als Kurt
tief genug schlief, holte sie ihm das Fotoknäuel aus dem Maul, duschte es,
trocknete es ab, faltete es auf und betrachtete es, um daraus schlauer zu
werden, als ihr schlecht davon war. Nach einer Stunde wusste sie: Diese Lippen
enthielten keine Botschaft. Max war krank, aber sie liebte ihn. Ihr letzter
Ehrgeiz dieses Tages sollte sein, das Foto in so kleine Teile zu zerreißen,
dass von der Abartigkeit des Benutzers nichts mehr übrig blieb. Nach vollzogener
Vierteilung bemerkte sie einen blassen Schriftzug auf der Rückseite. Das erste
Wort begann mit »L«, war möglicherweise ein Vorname, war aber unleserlich. Das
zweite hieß recht eindeutig: »Willinger.«
Als Katrin
im Telefonbuch blätterte, ertappte sie sich dabei, der Sache der perversen
Lippen auf den Grund zu gehen und freute sich über ihre Unerschrockenheit. Zwei
weibliche Willingers der Stadt hatten Vornamen, die mit »L« begannen, eine
Leopoldine und eine Lisbeth. Bei Leopoldine meldete sich ein Herr Hugo. Aus
dem Telefonat ging hervor, dass Leopoldine gestürzt war, einen hinkenden Fuß
hatte, was in ihrem Alter, 74, bedenklich sei, dass die Kinder und Enkelkinder
zu Weihnachten zu Besuch kommen würden und dass keiner in der Familie Max
hieß. Und wer sie eigentlich war, die Anruferin. Das war eine Frage.
Die zweite
Willinger, Lisbeth, war selbst am Apparat. Ihre Stimme wirkte jung und
lebendig. Sie war verheiratet, ihr Mann hatte gerade mit den Kindern einen
zweiwöchigen Urlaub angetreten. Nein, ihr Mann hieß nicht Max, sondern Hubert.
»Sind Sie auch von der Lotteriegesellschaft?«, fragte Frau Willinger. »Nein,
äh, Meinungsforschung«, erwiderte Katrin. »Was wollen Sie erforschen?«, fragte
die Frau. »Wie unsere Frauen Weihnachten verbringen«, erwiderte Katrin. Sie
selbst hätte nach so einer Ansage einer Meinungsforscherin grußlos aufgelegt.
»Wir sind
eine Clique von Freundinnen, die alle froh sind, dass ihre Männer und Kinder
einmal außer Haus sind, und da haben wir uns gedacht, wir wollen vielleicht...«
-»Also im Freundeskreis«, verkürzte Katrin. »Dann danke vielmals.« Das konnte
nicht die Frau sein, deren Lippen ein psychisch kranker Max zum gesunden
Beischlaf benötigte, dachte sie. Als der Hörer schon wieder so gut wie auf der
Gabel lag, folgte: »Und Sie brauchen kein Foto von mir?« -»Wieso sollte ich?«,
fragte Katrin und spürte zwei leichte Stromstöße an den Schläfen. - Frau Willinger
erzählte, erst vor einigen Tagen unter sonderbaren Umständen ein Foto an die
Lotteriegesellschaft geschickt zu haben. Jetzt wartete sie auf ein
versprochenes Werbegeschenk. »Wissen Sie davon?«, fragte sie. (Vielleicht
sollte man ihr einmal erklären, was Meinungsforscher gemeinhin wussten und was
nicht.) »Nein, aber wir können gerne nachfragen«, erwiderte Katrin und ließ
sich Name, Adresse und
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