Glattauer, Daniel
kein Trennungsgrund gewesen. Es gab keinen
Trennungsgrund mehr.
Katrin war
übrigens soeben dreißig Jahre alt geworden, wenn wer danach fragte. Es war
vermutlich ihr erster Geburtstag, an dem sie sich freute, dass er gerade begonnen
hatte, und nicht erst froh war, wenn er endlich vorbei war. - »Sich freute« war
eine schamlose Untertreibung und eine Geringschätzung ihres seelischen
Ausnahmezustandes. Katrin fühlte sich so gut, dass sie einen Weihnachtsbaum
ausreißen, mehr noch: einen bereits abgeschnittenen kaufen, mit nach Hause
nehmen und mit Lebkuchenengerln hätte schmücken können. Warum eigentlich nicht?
Im Glück war kein Klischee verboten.
Ihr
Kopfpolster lebte, war hart und behaart und roch nach Max: sein Brustkorb. Man
sollte ein Parfüm daraus machen, dachte sie, nicht aus dem Brustkorb, aus dem
Geruch. »Max« war ein guter Name für ein Parfüm. Max war überhaupt ein guter
Name. Sie liebte ihn. Nein, man durfte kein Parfüm daraus machen. Der Geruch
gehörte jetzt ihr allein. Sie hielt ihn umklammert (den Brustkorb) und hatte
auf der Unterseite, also hinter seinem Rücken, die Finger beider Hände
ineinander verkeilt. Das war eine geeignete Stellung zum Nie-mehr-Loslassen,
wenn auch keine zum Einschlafen. Katrin brauchte keine Stellung zum Einschlafen.
Sie musste nicht mehr schlafen. Sie wollte nicht mehr müde werden. Die Nacht
war ihr zu wertvoll, um Wachsein und Bewusstsein zu vergeuden.
Um vier
Uhr schlug die Wanduhr im Wohnzimmer vier Mal. Das löste eine Kurzserie von
ferneren Gedanken aus: Sie hatte endgültig Vaters Waidmannsheil-Uhr vergessen.
Sie hatte die Eltern insgesamt vergessen, vermutlich absichtlich. Waren sie
noch böse? Hatten sie Aurelius adoptiert? Sollte sie sie einladen? Warum nicht
heute? Warum nicht hierher? - Okay, wegen Max nicht hierher! Und vor allem
wegen Kurt nicht hierher! - Kurt? Wo war eigentlich Kurt? Warum ließ er nichts
von sich hören? Wohnte er nicht hier? Schlief er nicht hier?
Katrin
brauchte etwa zehn Minuten, um ihre Hände von Max loszukriegen. Sie hatte
plötzlich den Verdacht ihres Lebens (was Scharfsinn und Kombinationseingebung
betraf) und ging ihm auf Zehenspitzen nach. Sie tastete sich die Wände entlang
bis in die hintere Ecke des Wohnzimmers, wo das immer lauter werdende Ticken in
die griechische Wanduhr überging. Dort drehte sie sich um. Und ihr Blick fiel
auf... Über-ra-schung! Das musste Max selbst erleben. Katrin war mit sich
zufrieden. Innerhalb weniger Stunden hatten sich für sie zwei existentielle
Rätsel von selbst gelöst, ein Kuss- und ein Schlafrätsel.
»Katrin,
ich muss dir die Sache mit dem Foto erklären«, flüsterte Max irgendwann am
Morgen. Es war kein Morgen, an dem man wissen wollte, wann irgendwann war.
»Wann geht dein Flug?«, erwiderte Katrin. Das war ihr viel wichtiger. »Wie
lange kannst du bleiben?«, fragte Max. Das war ihm viel wichtiger. »Ich habe
heute Geburtstag«, erwiderte Katrin. »Wirklich?«, fragte er. »Dreißig«,
erwiderte sie rund. »Das gibt's nicht! Das müssen wir feiern«, sagte er. »Was
wünschst du dir?« - »Dich«, erwiderte sie. »Nicht lieber etwas, was du noch
nicht hast?«, fragte er. Sie lagen jetzt wie Zwiebelringe ineinander. Er war
der äußere, sie der innere Zwiebelring.
»Ich habe
ein Problem mit dem Küssen«, sagte Max. »Macht nichts«, erwiderte Katrin.
»Küssen ist ohnehin langweilig, immer das Gleiche.« - »Mein Flug geht erst,
wenn du weggegangen bist«, antwortete er. »Wann gehe ich weg?«, fragte sie.
»Wann du willst«, erwiderte er. »Dann nie«, sagte sie. »Dann geht der Flug
nie«, erwiderte er. »Heißt das ... ?«, fragte sie. »Urlaube sind ohnehin
langweilig, immer das Gleiche«, erwiderte Max. Dann schälte sich die innere
Zwiebelschale von der äußeren, drehte sich um und schmiegte sich wieder an.
Nun klebten sie Innenseite an Innenseite und ließen dabei ein paar Stunden
vergehen.
Wenn man
verliebt ist, macht man die irrsten Sachen. Man lässt zum Beispiel eine
Flugreise auf die Malediven verfallen und kauft stattdessen einen Christbaum.
Es war
ihre erste gemeinsame Anschaffung und sie freuten sich wie über ein schnellgeborenes
Wunschkind. Kurt wählte. Die Bäume, die er markierte, schieden aus. Eine dänische
Fichte blieb übrig. Kurt hatte übrigens wieder zu seiner Grundbefindlichkeit,
zum gefestigten Halbschlaf, zurückgefunden. Katrin wusste, warum.
Dieser 24.
Dezember war schon immer wieder ein sonderbarer Tag. Menschen, die das
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