Glattauer, Daniel
Dafür hätte er von nun an vermutlich Mama zu
ihr sagen dürfen. Vater Hofmeister, auch bereits zum Papa gereift, nahm ihn an
beiden Schultern, rüttelte ihn kräftig durch und warf ihm einen abschließenden
»Aber-das-nächste-Mal-reden-wir-beide-verlässlich-über-Sportautos«-Blick zu.
Zwei
Überraschungen fehlten noch. Katrin bat Max, für zehn Minuten die Wohnung zu
verlassen. Er durfte nicht fragen, warum. Und er sollte danach auf keinen Fall
etwas Besonderes erwarten, hieß es. Kurt schloss sich ihm an, nicht, weil ihm
langweilig war, sondern weil er musste. Sie machten das Beste daraus und gingen
Gassi.
Als sie
zurückkehrten, durfte sich Kurt wieder mit sich beschäftigen. Er durfte sich
unter seinen Sessel legen. Es war ein guter Sessel. Er akupunktierte seinen
Rücken nicht mit dänischen Fichtennadeln, wenn sie einander berührten.
Max musste
im Vorraum die Augen schließen. Nein, das genügte nicht. Er musste sich die
Augen mit einem Tuch verbinden lassen. Es gab einen guten Grund, warum er es
tat, ohne nach dem Sinn zu fragen: Katrin. Wenn sie es gewünscht hätte, wäre er
auch auf allen vieren durch den Esterhazypark gekrochen, ohne nach dem Sinn zu
fragen. Katrin war für ihn Sinn genug.
Sie nahm
ihn an der Hand und führte ihn ins Wohnzimmer, wo Mozart sein Konzert vom
Vorabend wiederholte, allerdings in etwas größerer Lautstärke. In der Mitte
des Raumes blieben sie stehen. »Was jetzt?«, fragte er. »Küss mich, Max«, sagte
sie. »Muss das sein?«, fragte er. Lieber wäre er auf allen vieren durch den
Esterhazypark gekrochen. »Ich weiß, dass es dir schwerfällt, aber ich wünsche
es mir so sehr«, sagte sie. »Versuch es doch wenigstens.« -»Wozu die
Augenbinde?«, fragte er. »Bitte küss mich!«, erwiderte sie. Das klang nach
letzten Worten vor dem Verdursten. Er musste es rasch tun.
Er spürte
ihre Hände um seine Hüften. Er spürte einen warmen Luftzug von unten. Er beugte
sich zu ihr. Er griff nach ihren Wangen, fühlte ihre Lippen an seinen, spürte
ihre Zunge in seinem Mund. Sie war zart und wendig und schmeckte nach
Birnenkuchen. Birnenkuchen schmeckte nach nichts, das war erfreulich. Und eine
schönere Frau hatte er noch nie geküsst und würde er nie wieder küssen. Das war
ein zusätzlicher Trost. Er war bis in die Kuppen der beiden kleinsten Zehen in
sie verliebt. Das brach seinen letzten Widerstand.
Es war ein
langer Kuss, der ein paar Mal abrupt unterbrochen wurde. Zunächst hatte Max
eher harmlose Übelkeitsanfälle. Die fette Sissi tauchte sporadisch auf, hielt
sich aber zum Glück recht verschwommen im Hintergrund. Sie konnte sich vom
schärferen Bild der erwachsenen Lisbeth kaum noch abheben. Dazu zeichnete Max
in Gedanken die Fotolippen nach. Dabei schoss ihm die Blamage des Erwischtwordenseins
in den Sinn. Warum hatte Katrin noch nicht danach gefragt? Warum wusste sie
überhaupt, dass es ihm schwer fiel zu küssen? Warum hatte sie so lange auf den
Kuss gewartet? Mit solchen Überlegungen ließ sich kostbare Zeit gewinnen.
Anfangs
gab es Phasen, da ihm der Kuss gefiel. Er spürte dabei Katrins Körper,
inhalierte ihre Gerüche, erinnerte sich an die letzte Nacht, freute sich auf
die nächste und auf die übernächste und auf jede weitere. Irgendwann nahm sie
seine Hände von ihrem Hals. Und auch ihr Körper berührte an keinem Punkt mehr
seinen. Sie waren nur noch durch den Kuss verbunden, aber auch ihre Zunge
begann sich von seiner zu lösen.
Plötzlich
schien sich Katrin vollständig von ihm zurückgezogen zu haben. Er spürte und
roch sie nicht mehr. Er hörte sie auch nicht, dazu klopfte Mozart zu dominant
in die Tasten des Interpreten. Der Kuss hinterließ die Leere des Entzugs und
wirkte übel nach. Max hatte Probleme, die Konturen der hämisch grinsenden
fetten Sissi zu verwischen. »Katrin?«, fragte er und begann nach ihr zu tasten.
»Ich bin bei dir«, flüsterte sie ihm ins Ohr. Sie musste neben ihm gestanden
haben.
Die
Lippen, die er nun wieder an seinen spürte, erlösten ihn vom einsetzenden
Kindheitstrauma. Katrin küsste jetzt mit vollerem Mund. Ihre Zunge war breiter
und raumgreifender. Der Geruch war ein anderer, ein süßlicherer, und der
Geschmack - der kam ihm auf seltsame Weise fremd und doch bekannt vor. Katrins
Finger waren jetzt dicker und kühler und krochen von seinen Wangen behäbig die
Schläfen hinauf, schlüpften unter die Augenbinde und schoben diese langsam zum
Kopfscheitel empor.
Max
verspürte ein Gefühl des Unbehagens.
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